UBERMORGEN — Schuldvermutung

Eröffnung, 27. April 2023, 19:00 Uhr
Ausstellung, 28. April – 2. Juni 2023

„Ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstellen statt sie zu zerstören?“* Mit dieser Frage greift Roland Barthes zu Beginn der 1970er-Jahre eine Möglichkeit zur Unterwanderung bestehender Ordnungen auf, die bis heute nichts an ihrer Relevanz eingebüßt hat. Denn als Individuen können wir gar nicht anders, als innerhalb eines Systems, eines Netzwerks, eines Zusammenhangs aktiv zu werden, um handlungsfähig zu bleiben und gegebenenfalls Widerstand zu leisten. Dass es ein Außerhalb, so etwas wie einen neutralen Boden, ohnehin nie gegeben hat, wird in Zeiten globaler Verstrickungen von Politik, Wirtschaft und Medien umso deutlicher. Der Schein trügt – immer. Die künstlerische Praxis von UBERMORGEN führt diesen Widerspruch an den Schnittstellen von Kunst, Performance, Medienaktivismus, digitalem Aktionismus, Hacking, Ausstellungsraum und digitaler Umgebung vor: „Unsere Arbeit ist von Neugier getriebene Forschung“, schreibt das seit 1995 aktive Künstler*innen-Duo bestehend aus Luzius Bernhard und Elisabeth Haas (lizvlx) in einem Manifest aus dem Jahr 2009: „Sampling ist unser grundlegendes Produktionsprinzip. Unsere Arbeit ist visuell. Sie ist textuell. Wir programmieren Re-Kombinierungen. Wir modifizieren deinen Klartext … Wir analysieren Systemkonfigurationen und kombinieren dann unsere Erkenntnisse, Fakten und Fiktionen zu falschen Originalen, zu (un-)wahren Geschichten. Wir kontextualisieren Technologie mit Pseudo-Politik und soziale Botschaften mit Kommerz.“**

Die Taktiken von UBERMORGEN können als produktive Subversion und subversive Produktion gleichermaßen charakterisiert werden: Dezentral in Netzwerken organisiert, sind die Kunstwerke häufig flüchtig und verfestigen sich in der Ausstellungspraxis des Duos zu auf Leinwand gedruckten Pixeln oder in Settings, die mit ihrem übervollen Layout an frühe Internet-basierte Grafik erinnern. Als Installationen changieren die von UBERMORGEN inszenierten Bild- und Objektwelten zwischen dem Dokumenthaften und dem Fiktiven, sie bespielen das Spektrum zwischen dem Realen und dem Vermittelten, zwischen Politik und Kunst. Denn nicht nur, dass es den Künstler*innen immer wieder gelingt, sich mit ihren Werken in den massenmedialen Alltag einzuschreiben und die mediale Berichterstattung zu entlarven, sie vermögen auch, herkömmliche künstlerische Ausdrucksmittel wie etwa Malerei, Fotografie, Objekte und Performance im digitalen Zusammenhang neu zu formulieren und in eine eigenständige ästhetische Praxis zu verwandeln. Das permanente Oszillieren zwischen dem Scripting von Alternativweltgeschichten und der performativen Dokumentation gesellschaftlicher Tatsachen gehört dabei zu ihrem Kerngeschäft.

Fokusgruppe: Demokratischer Zirkel
Performance am Eröffnungsabend, 19:30 Uhr
Mit Luzius Bernhard, Julian Hessenthaler, lizvlx (Elisabeth Haas)

Mit Schuldvermutung stellen UBERMORGEN im Kunstraum Lakeside einen neuen Werkzyklus vor. Anhand konkreter politischer Ereignisse in Österreich entwerfen sie eine Art Realdystopie über postdemokratische Tendenzen, die das österreichische Lokalkolorit weit hinter sich lässt. Es handelt sich um ein Stück über eine von den handelnden Personen lediglich zur Schau gestellte und deshalb zur Formelhaftigkeit verkommene Demokratie; über Korruption, die vom Neoliberalismus geradezu befeuert wird; über die trickreiche Umgehung von Gesetzen sowie über den Verfall der öffentlichen Kommunikation durch Medienunternehmen, die sich durch Partikularinteressen vereinnahmen lassen. Ausgangspunkt für Schuldvermutung ist die sogenannte „Ibiza-Affäre“, jener Skandal, der wegen eines heimlich aufgenommenen Videos 2019 zum Bruch der damaligen ÖVP-FPÖ-Regierung und zu vorgezogenen Neuwahlen in Österreich führte. Die Videobilder, die in Auszügen weltweit durch alle Medien gingen, zeigen zwei hochrangige politische Repräsentanten mit der vermeintlichen Nichte eines russischen Oligarchen bei einer mehrstündigen Unterhaltung über politische Gegenleistungen für die finanzielle Unterstützung der eigenen Partei. In flagranti, quasi performativ.

UBERMORGEN konzentrieren sich in ihrer inszenierten Installation auf eine Figur innerhalb dieses realen Schauspiels, die wie keine andere die Ambivalenz des gesamten Ereignisses verdeutlicht: Julian Hessenthaler, der als mutmaßlicher Drahtzieher hinter dem Video mehr als ein Jahr nach Veröffentlichung nicht wegen der Filmaufnahmen, sondern wegen Drogenhandels und Dokumentenfälschung festgenommen wurde. Hessenthaler, ein ehemaliger Privatdetektiv, der ein politisches Erdbeben ausgelöst hat, erweist sich geradezu als Verkörperung der Figur des Tricksters, jener mythologisch-literarischen Gestalt, die Regelbrüche begeht, um der Menschheit aus moralischen Gründen Gutes zu bringen. Hessenthaler, der kritischen Medienberichten zufolge in einem Gerichtsverfahren mit umstrittener Beweisführung als Dealer verurteilt wurde, steht aber auch für die dunklen Seiten des Tricksters, die es benötigt, um mit der Ordnung überhaupt brechen zu können. Störenfried althergebrachter Konventionen oder provokanter Falschspieler, anonymer Hinweisgeber oder Denunziant, Held oder Schurke – auf alle Fälle ein fluides Doppelwesen, dem in Schuldvermutung von UBERMORGEN eine zentrale Rolle zukommt, wenn es den Künstler*innen darum geht, mit installativen Mitteln parafiktionale Wirklichkeiten zu performen und damit schwer fassbare Verstrickungen sichtbar zu machen.

Die Installation im Kunstraum Lakeside nimmt die Form eines Newsrooms an, in dem Besucher*innen einen Blick von einer hypothetischen Zukunft auf die Gegenwart werfen können. KI-produzierte Bilder veranschaulichen spekulativ zahlreiche Transfers zwischen Wissenschaft, Ökonomie, Kultur und Politik und R estrukturierungen von politischen Systemen, Modernisierung der Infrastrukturen, Beziehungsarbeit und die Planung von publikumswirksamen Programmen und den dazugehörigen Medienkampagnen werden imaginiert. Hier wird alles und nichts entwickelt, hier wird über alles und nichts berichtet. „Wir sind keine Aktivisten“, schreibt das Künstler*innen-Duo UBERMORGEN in seinem Manifest: „Wir sind Aktionisten in der kommunikativen und experimentellen Tradition des Wiener Aktionismus – wir agieren in den globalen Medien-, Kommunikations- und Technologienetzwerken, unser Körper ist der ultimative Sensor und das unmittelbare Medium.“** Bei Schuldvermutung handelt sich also weniger um eine politische Kunstaktion – um Aktivismus im Sinne eines zielgerichteten Handelns –, denn vielmehr um eine künstlerische Intervention in die Politik, in ihre sozialen Mechanismen und medialen Logiken. Und natürlich gilt die Schuldvermutung. Für alle Beteiligten.

* Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1986, S. 141.
** UBERMORGEN, „manifesto“, 2010, https://www.ubermorgen.com/manifesto

UBERMORGEN
lizvlx (* 1973 in Österreich) lebt und arbeitet in Wien und St. Moritz.
Luzius Bernhard (* 1973 in den USA) lebt und arbeitet in Wien und St. Moritz.
www.ubermorgen.com

 

UBERMORGEN, D1ck (scalable), 2021