Salome Dumbadze, Ana Gzirishvili, Nina Kintsurashvili — Expelled Grounds

Eröffnung, 26. November 2024, 18 Uhr
Ausstellung, 27. November 2024 – 9. Jänner 2025

Östlich des Schwarzen Meeres und südlich vom Großen Kaukasus gelegen, wird Georgien im Norden von Russland, im Süden von der Türkei und Armenien und im Osten von Aserbaidschan begrenzt. Die Landesteile Abchasien und Südossetien sind seit mehr als zwei Jahrzehnten von russischen Streitkräften besetzt. Der Krieg in der Ukraine ist ganz nah – nicht zuletzt auch deswegen, weil seit Kriegsausbruch sowohl zehntausende ukrainische Flüchtlinge als auch russische Migrant*innen in das lediglich rund 3,7 Millionen Einwohner*innen zählende Land gekommen sind. Während die georgische Regierung versucht, das Land an Russland anzunähern, sehen vor allem viele junge Georgier*innen ihre Zukunft als Teil Europas in einer demokratischen Europäischen Union.

In dieser durch Unsicherheit und Instabilität geprägten Situation arbeiten Salome Dumbadze, Ana Gzirishvili und Nina Kintsurashvili mit dem Ziel zusammen, ein auf eingehenden Recherchen basierendes und experimentelles Kunstschaffen zu ermöglichen. Der inhaltliche Fokus der Zusammenarbeit liegt auf dem geschlechtsspezifischen Kulturerbe im Kaukasus und der postsowjetischen und postkolonialen Gesellschaft Georgiens. Das Teilen von Ressourcen und der gemeinsame, theoretische Austausch werden von den Künstlerinnen ebenso angestrebt wie die Dokumentation gegenwärtiger gesellschaftlicher Phänomene, die nicht der offiziellen georgischen Politik entsprechen. Sie fokussieren dabei insbesondere auf das materielle Kulturerbe, als Spur verschiedener ethnischer Gemeinschaften, aber auch als Kristallisationspunkt für die anhaltenden Konflikte.

Da sich im postsowjetischen Georgien keine unabhängige Geschichtswissenschaft etablieren konnte und in diesem Land nationale „Geschichte“ buchstäblich mit dem Bau oder der Umwidmung von Kirchen geschrieben wird, ist es nur folgerichtig, dass die drei Künstlerinnen bei ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung außerhalb Georgiens eine Kirche zum Ausgangspunkt ihrer Beschäftigung mit den materiellen Überlieferungen des Kaukasus nehmen. Es handelt sich um die Ruine der Karmir Avetaran Kirche im Zentrum von Tiflis. Die Anfänge dieser armenischen Kirche liegen im 18. Jahrhundert, als Armenier*innen als Arbeitskräfte und Wirtschaftstreibende gesucht wurden. In einer Sammlung an georgischen Gesetzesentwürfen während der Regentschaft des Königs Erekle II. heißt es etwa: „Alle diejenigen, die aus fremden Ländern kommen, sollen von uns und unseren treuen Richtern, Beamten oder anderen so geehrt und unterstützt werden, dass fortan mehr Menschen aus fremden Ländern versucht sein werden, unter unseren Schutz zu kommen.“

Das aktive Bemühen um Migrant*innen, die großen Anteil am wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung Tiflis im 18. Jahrhundert hatten, schloss die Anerkennung ihrer religiösen wie kulturellen Identität mit ein. So erbaute die armenische Gemeinschaft die Karmir Avetaran Kirche, deren Fertigstellung mit diversen Erweiterungen, Umbauten und Renovierungen über zwei Jahrhunderte dauern sollte. Während der Sowjetzeit wurde sie von verschiedenen Organisationen genutzt. Die zu dieser Zeit wiederholt geäußerte Bitte der armenischen Gemeinde an die städtischen Organisationen, auf eigene Kosten Verstärkungsarbeiten an der Kirche durchzuführen, blieb erfolglos. Im April 1989 stürzte die Kuppel nach einem starken Erdbeben ein. Seither verschlechtert sich der Zustand der Kirche zusehends, während in den letzten Jahren das in der unmittelbaren Nachbarschaft liegende Viertel einen durch den Tourismus befeuerten rasanten Gentrifizierungsprozess durchläuft. Vertreter*innen der armenischen Gemeinschaft sehen darin eine Fortführung einer Politik der Vernachlässigung, wenn nicht sogar Georgisierung und/oder Zerstörung historisch und kulturell wertvoller armenischer Stätten in Georgien.

Am Beispiel der komplexen Geschichte dieser verlassenen und vergessenen Kirche stellen Salome Dumbadze, Ana Gzirishvili und Nina Kintsurashvili die Frage, wie ein scheinbar prägendes kulturelles Erbe im Zentrum der Stadt Opfer andauernder ethnischer und religiöser Konflikte werden kann. Sie fragen, was „geschieht, wenn etwas, das als monumentale Markierung eines kulturellen Weges dienen sollte, vergänglich wird, indem es durch Vernachlässigung und im Zuge ethnischer Streitigkeiten vorsätzlich dem Verfall und dem Verschwinden preisgegeben wird? Wie können Gebäude zu Einwandernden werden, wenn sie das Land, auf dem sie errichtet wurden, nicht vollständig beanspruchen und wechselnden politischen Agenden ausgeliefert sind?“

Ana Gzirishvili schafft Leerformen der Kirche aus Leder. Mittels einer alten Handwerkstechnik formt sie Modelle der Kirche mit nassem Leder ab. Einmal getrocknet, bleibt die organische Hülle des Gebäudes über. Flexibel und leicht transportierbar liegen die verkleinerten Strukturen gleich abgelegter Schlangenhäute oder Muschelschalen im Ausstellungsraum. Nur ungenügend lassen sich aus ihnen architektonische Besonderheiten des Gebäudes ablesen. Vielmehr legen diese Leerformen aus Leder Zeugnis ab. Zeugnis von dem, was war – eine lebendige armenische Gemeinde in einer georgischen Stadt –, wie auch vom Verlust dieses multiethnischen Miteinanders.

Nina Kintsurashvilis bildnerische Untersuchung setzt bei einem kleinen erhaltenen Fragment der malerischen Ausstattung an der nördlichen Wand der Kirche an: Sie fertigt farbige Wiederholungen von überlieferten Formen und nimmt davon Monotypien mit Maulbeerpapier ab. Aus der inneren Rinde des Maulbeerbaums hergestellt, verleihen dessen lange Fasern dem Papier eine hohe Beständigkeit. Indem sie tradierte malerische Fragmente wiederholt und dabei abwandelt, führt Kintsurashvili eine Arbeit fort, die jahrhundertelang (männlichen) Kirchenausstattern vorbehalten war. Sie schreibt sich in eine Reihe jener ein, die existierende Traditionen aufführen und in die Gegenwart tragen. Durch das Abnehmen der Formen mittels eines Druckverfahrens macht sie zusätzlich deutlich, dass Rekonstruktionen wie sie von Restaurator*innen vorgenommen werden, im Fall der Karmir Avetaran Kirche zu kurz greifen, gilt es doch zunächst überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was unwiederbringlich zu verschwinden droht.

Salome Dumbadze schließlich schafft bewegliche Skulpturen aus Versatzstücken der gegenwärtigen Konsumkultur. Mittels einer Scheibenwischermechanik setzt sie ein Gemälde, eine Flagge oder einige vor Ort gesammelte Readymade-Objekte in Bewegung. Anders als in kulturhistorischen Museen üblich, umgeht sie die museale Stillstellung und damit Aufladung der gezeigten Gegenstände und transferiert sie in einen beweglichen Zusammenhang – ihr autonomer, selbstreferentieller Status wird aufgehoben. Die von Dumbadze zusammengestellten Gefüge werden zu Metaphern für die materielle Gegenwartskultur im Kaukasus, die von austauschbaren Konsumgütern mit begrenzter Lebensdauer und der Glorifizierung nationaler wie religiöser Denkmäler gleichermaßen gekennzeichnet ist.

In der Recherche zur Karmir Avetaran Kirche und den darauf aufbauenden künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem dort noch vorhandenen materiellen Erbe lenken die drei Künstlerinnen den Blick auf jene Bedingungen, die es Migrant*innen ermöglichen, anzukommen und zugleich ihre kulturelle Eigenständigkeit zu bewahren. Dabei liegt ihr besonderer Fokus auf dem prekären Status, den die georgische Mehrheitsgesellschaft als „Host“ der armenischen Gemeinschaft selbst nach deren jahrhundertelangen Existenz in Georgien zuweist. Mit der Ausstellung Expelled Grounds eignen sie sich nicht die Stimmen oder Artefakte der armenischen Kirchengemeinde auf symbolhafte Weise an. Vielmehr tragen sie dafür Sorge, dass ein zum Verschwinden gebrachtes kulturelles Erbe in seiner Absenz gegenwärtig bleibt. Sie fungieren als Gastgeberinnen für eine kulturelle Leerstelle sowie als Zeuginnen dafür, wie selbst der feste Boden der historischen Tatsache armenischen Lebens im Herzen von Tiflis an Halt verlieren kann und ein Gebäude migrantisch wird.

Salome Dumbadze სალომე დუმბაძე | www.instagram.com/sa_lomka
Ana Gzirishvili ანა გზირიშვილი | www.anagzirishvili.com
Nina Kintsurashvili ნინა კინწურაშვილი | 
www.ninakintsurashvili.com

(Alle geb. 1992 in Tiflis, Georgien)

 

Armenische Apostolische Kirche in Tiflis, 2023
Armenische Apostolische Kirche in Tiflis, 2023