Eröffnung, 27. September 2022, 19 Uhr
Ausstellung, 28. September – 4. November 2022
Der Bühnenvorhang eines Puppentheaters, ein rätselhafter Monolog, durchsetzt mit poetischen Passagen und doch voller Gewalt, eine Performerin, die diesem Text ihre Stimme gibt, kulissenhafte Bilder auf einem Monitor, eine Marionette, die offensichtlich einem Brand zum Opfer gefallen ist: Die Ausstellung Sipario im Kunstraum Lakeside ist, so der Künstler Riccardo Giacconi, „die Hypothese eines Puppenspiels“. Indem er eben jene Mittel, die für ein solches Bühnenstück notwendig sind, im Raum versammelt, überlässt er es diesen narrativen Elementen sowie dem Publikum, das Drama, dessen Protagonist*innen und deren Hintergründe zu evozieren.
Die Szene dafür wird mit dem titelgebenden „Siparium“ gebildet, also jenem Vorhang, der dazu dient, die Bühne vom Zuschauerraum zu trennen, wenn Kulissen gewechselt werden. Wie bei Marionettentheatern durchaus üblich, fasst das von der Compagnia Marionettistica Carlo Colla e Figli auf der Vorderseite des Vorhangs gemalte Bild das Stück zusammen. Genauer gesagt: Es ordnet visuelle Elemente aus verschiedenen Momenten der potenziellen Erzählung in einem einzigen Bild an. Diese Elemente stammen zum einen aus jenem Text, der in der Ausstellung zu lesen und zu hören ist, und zum anderen handelt es sich um eine Selbstdarstellung der Compagnia Carlo Colla e Figli, deren Anfänge bis in das späte 18. Jahrhundert zurückgehen. Seit damals interagieren Angehörige dieser Theatergruppe mit Puppen aus Holz derart kunstvoll, dass die Marionetten während der Aufführungen voller Leben scheinen.
Beinahe ebenso weit wie die Anfänge der Compagnia liegt der Ausgangspunkt des Monologs des potenziellen Bühnenstücks zurück. Denn der Satz „Er fragte mich, ob ich nicht, in der Tat, einige Bewegungen der Puppen […] im Tanz sehr graziös gefunden hatte“ aus Heinrich von Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ (1810) wurde von Riccardo Giacconi in den Online-Textgenerator InferKit eingegeben, der daraus den Monolog für Sipario verfasste. Künstliche neuronale Netze lernen anhand riesiger Datenmengen zu schreiben, also neue Inhalte basierend auf Mustern, die sie erkannt haben, zu schaffen. Indem solch eine Maschine den Input aus einer Textpassage über die weit in die Vergangenheit reichende Kunst des Puppenspiels bekommt, bringt Giacconi alte Vorstellungen darüber, was es heißt, Bewusstsein und Intention zu haben, mit gegenwärtigen Fragestellungen zu den Möglichkeiten und Limitationen von künstlichen neuronalen Netzen zusammen. Denn interessanterweise bricht Kleist in diesem Text mit der vorherrschenden Meinung seiner Zeit, wenn er gerade im fehlenden Bewusstsein das Potenzial für Anmut – innerhalb der klassischen Ästhetik eine Form des Schönen, die insbesondere in Bewegungen zum Ausdruck kommt – lokalisiert. Die Marionette dient ihm als besonders einleuchtendes Beispiel für seine These, da sich ihre Grazie einer Kombination aus materiellem Puppenkörper, der Fingerfertigkeit ihrer Spieler*in und der Schwerkraft verdankt.
Der von Giacconi zur Konstruktion des Monologs benutzte Textgenerator scheint die Idee von Kleist aufzugreifen, wenn er in einem anderen Text schreibt: „Eine Marionette wird sich – ungeachtet ihres ‚Bewusstseinszustands‘ – bewegen, wenn man ihr nur die nötigen ‚Muskeln‘ gibt. Im Grunde bedeutet dies, dass eine Marionette ‚verstanden‘ werden muss, bevor sie bewegt werden kann.“ Der Künstler versichert, dass Mitglieder der Compagnia Colla die Kunst des Puppenspielers vergleichbar beschreiben würden, da es eben nicht um die komplette Kontrolle über ein lebloses Objekt ginge, sondern darum, sich von der Marionette leiten zu lassen.* Dieses Zusammenwirken von Materialien und Kräften kann beispielhaft für jeden kreativen Prozess verstanden werden. Riccardo Giacconi legt diese Deutung nahe, wenn er jene Farbflecken, die sich beim Bemalen der Vorderseite ungeplanter Weise durch den Stoff gesogen haben, in die Gestaltung der Rückseite integriert. Sie haben in Verbindung mit den weiteren Hinweisen, die er in der Ausstellung gibt, das Potenzial „gelesen“ zu werden, wie auch das Bild auf der Vorderseite gleich einem Rebus entschlüsselt werden kann.
Eine Ausstellung als eine Hypothese aufzufassen, wie es Riccardo Giacconi tut, unterstreicht ihren performativen Charakter. Sie ist nicht als abgeschlossenes Werk in den Raum gestellt, sondern entfaltet sich als Aussage oder Annahme von Tatsachen in der Zeit. Sie lädt ein, Thesen über die potenzielle Geschichte, über das Davor und das Danach aufzustellen und diese auch wieder zu revidieren. Gegebenes verbindet sich mit Spekulativem und Vermutetem, konkrete Gegenstände bilden eine Einheit mit medial Vermitteltem, die alte Kunst des Marionettentheaters tritt in Dialog mit der noch jungen Technologie neuronaler Netze. Die neu für den Kunstraum Lakeside entwickelte Arbeit führt damit die auf langfristigen Recherchen basierende künstlerische Praxis von Riccardo Giacconi fort. Denn auch in den bisherigen Arbeiten verknüpft der Künstler konkrete Momente aus scheinbar weit entfernten Bereichen, um Bruchlinien und Kontinuitäten, Widersprüche und Kontingenzen anschaulich zu machen. Dabei bedient er sich Zeige-, Erzähl- und Deutungsweisen, die außerhalb der bildenden Kunst entstanden sind, wie etwa dem Puppentheater, dem Dia-Abend oder auch dem Tarot. Der Künstler verwebt Objekte, Filme, Audioelemente, Bilder, Texte und Fundstücke seiner Recherchen zu vielschichtigen installativen Erzählungen. Dabei fungiert der Ausstellungsraum als Rahmen oder Austragungsort, der es gleichermaßen ermöglicht, heterogene Elemente an einem Ort zu versammeln, als auch jene Punkte innerhalb ihres Bezugsgeflechts auszumachen, wo sie einander trotz all ihrer Verschiedenheit berühren. Mit Sipario baut Riccardo Giacconi eine Versuchsanordnung auf. Es liegt an den Betrachter*innen, Fragen zu formulieren – etwa zur Gewalttätigkeit des Monologs und deren Ursachen, zur in unserer Gesellschaft tief verankerten kategorialen Trennung von Belebtem und Unbelebtem oder zum Reiz von Gefügen, die ohne Intention entstanden sind –, um im Anschluss daran Schlüsse zu ziehen. Sie können dies nur tun, indem sie sich in diese Versuchsanordnung hineinbegeben und somit Teil der dort versammelten Dinge und Erzählungen werden.
Riccardo Giacconi (* 1985 in Italien) lebt und arbeitet in Boston, MA.
www.riccardogiacconi.com
*Riccardo Giacconi in: „Giochi dell’imitazione. Marionette, Golem e macchine che scrivono“, 2021,
https://www.iltascabile.com/letterature/giochi-imitazione.