Eröffnung, 1. Oktober 2019, 19 Uhr
Ausstellung, 2. Oktober – 8. November 2019
Der Arbeitsalltag im Büro unterscheidet sich kaum von dem im Atelier, in beiden Fällen wird unterschiedliches Material zu einem bestimmten Thema in Form gebracht. Der spanisch-deutsche Künstler Ignacio Uriarte ist mit beiden Situationen vertraut. Nach seinem Studium der Betriebswirtschaft hat er zuerst in internationalen Konzernen gearbeitet und dort den Tagesablauf zwischen Kopien, Kugelschreibern und Excel-Listen kennengelernt. Auch nach seinem Berufswechsel zum Künstler bezieht er sich auf jene Materialien und Medien, mit denen er zu arbeiten begonnen hat: Er verwendet Druckerpatronen, die – im Büroalltag ungewollt, als Künstler intendiert – ihre Spuren am Papier und am Schreibtisch hinterlassen; er benutzt die blaue, rote, grüne und schwarze Tinte des BIC-Kugelschreibers, um beim Kritzeln die Zeit seines eigenen künstlerischen Handelns zu reflektieren; er setzt die vordefinierten Raster von Kalkulationstabellen und Millimeterpapieren ein, um seine Werke in das gewünschte Format zu bringen.
Ignacio Uriarte stellt seine Kunst zwar mit analogen Mitteln her, methodisch folgt er aber einer maschinellen Logik, die von Null und Eins bestimmt wird und nicht nur den Büro- sondern vor allem auch den Alltag im Atelier mehr denn je gestaltet. Der Künstler experimentiert mit den Werkzeugen, die ihm aus seinem vergangenen Berufsleben bekannt sind, indem er sich den Handlungsabläufen stellt, die an diese Gerätschaften gekoppelt sind. Uriarte zufolge handelt es sich dabei um „lächerlich kleine Gesten und Routinen“ wie etwa das Falten eines Briefes bevor dieser in einen Umschlag kommt oder das Kritzeln auf Papier während eines Telefonats: „Ich habe mir zwar das Korsett umgeschnallt, dass ich die vier Bürowände, aus denen ich kommen, nicht verlassen darf. Da ich nun aber nicht in die Breite gehe, gehe ich in die Tiefe. Und in der Tiefe meiner Recherchen entstehen immer mehr Querverbindungen und ich kann Facette um Facette herausarbeiten.“ Das Ergebnis aus diesem Prozess, das Uriarte häufig durch Wiederholung ein und desselben Bewegungsmusters erzielt, lässt Kunstwerke entstehen, die die Formensprache von Minimal und Konzeptkunst aufnehmen, diese jedoch mit den generativen Methoden der von digitalen Technologien gekennzeichneten Kunstproduktion des 21. Jahrhunderts konfrontieren. Die Endlosschleife – sowohl in künstlerischen als auch in wirtschaftlich-kommerziellen Zusammenhängen – wird gleichermaßen zu dem der Arbeit zugrunde liegenden Prinzip wie auch zu ihrem übergeordneten Thema.
Im Kunstraum Lakeside zeigt Ignacio Uriarte eine Auswahl von Werken, die in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind. Es handelt sich dabei um unterschiedliche Reflexionen auf das weit verbreitete DIN-A4-Papierformat. Als einer unter vielen vom Deutschen Institut für Normung (DIN) entwickelten Standards hat das heute handelsübliche Kopierpapier die Maße 210 × 297 mm. Aus dem Verhältnis zwischen Breite und Höhe des Papierblattes ergeben sich alle weiteren Größen dieser seit den 1920er-Jahren festgelegten Normreihe. Die seit knapp 100 Jahren an dieses Seitenverhältnis geknüpften Gepflogenheiten und Modi im Umgang mit dem Papierblatt stellt Ignacio Uriarte in unterschiedlichen Zusammenhängen zur Diskussion. Die Ausstellung im Kunstraum Lakeside umfasst Installationen wie A4-Cycle (2004) oder Fold Spin Couples (2012), bei denen Papierblätter auf unterschiedliche Weise bearbeitet werden, damit sie eine gänzlich andere Gestalt annehmen. Während bei A4-Cylce unzählige gerollte und aufgestellte Blätter eine Art Körper mit organischem Kreismuster ergeben, lassen bei Fold Spin Couples lediglich zwei aufeinander liegende und gefaltete Blätter schon an ein Buch denken.
Darüber hinaus sind in der Ausstellung zwei Faltungen mit den Titeln Diagonal Square Play (2016) und Square Waves (2017) zu sehen. Mit diesen Werken reagiert Ignacio Uriarte auf die Architektur des Kunstraum Lakeside, indem er dem mobilen Stellwandsystem andere Oberflächen aufsetzt. Die Faltungen bestehen häufig aus negativen und positiven Knicken im Papier, die man vom Bearbeiten eines Briefes im Büroalltag kennt. Blatt für Blatt mit einem besonderen Rhythmus an den Wänden installiert, verhandeln diese Werke insofern die Idee des Binären als sich ihre Wirkung auf die Betrachter*innen erst durch das Spiel aus Licht und Schatten ergibt. Auf einem Foto erinnern die Arbeiten an die glatte Ästhetik eines 3D-Drucks, der mit einem Architekturprogramm erstellt wurde, im Ausstellungsraum spielt das Werk jedoch mit seiner eigenen Imperfektion und wird zur haptisch-materiellen Intervention, zum architektonischen Eingriff in bestehende Oberflächen. Der Eingriff in Oberflächen ist auch zentrales Charakteristikum von Uriartes Arbeiten X-Fields (2019), bei denen der Künstler nach optimalen Raumlösungen innerhalb des Papierblattes sucht. Es handelt sich um Rechtecke, die er mit dem Buchstaben X mit der Schreibmaschine ausfüllt.
Als hätte die Monotonie ganz ursächlich mit dem Büroalltag zu tun und als wäre die Wiederholung eine Methode, um bestimmte Arbeitsprozesse nachzuzeichnen, finden sich in Ignacio Uriartes Ausstellung häufig Momente der Selbstreferenz. „Ich freue mich, wenn ich bei einer Ausstellung in einem Raum unterschiedliche Aspekte ein und derselben Form einbringen kann – einen Papierstapel etwa,“ so der Künstler über A Stack (2010), ein Video, das er ebenso im Kunstraum Lakeside präsentiert. Bei dieser Animation lässt er einen Stapel Papier Blatt für Blatt anwachsen. Unmittelbar wenn die 2000 Einzelblätter ihre maximale Höhe erreicht haben, schrumpft der Stapel wieder. Der Vorgang dauert 80 Sekunden und wird in einer Endlosschleife vorgeführt. „Wenn ich in einem Ausstellungszusammenhang eine weitere Arbeit finde, die einen anderen Aspekt des Papiers oder des Stapelns von Papier abdeckt, ist das die Variation ein und desselben Themas. Das ist eine Bereicherung, sowohl für Betrachter*innen als auch für mich selbst. Ich finde es unglaublich, wie man aus so gut wie nichts wahnsinnig viele Ideen und Themen ableiten kann.“
Ignacio Uriarte (* 1972 in Deutschland) lebt und arbeitet in Berlin.
www.ignaciouriarte.com
Zitate: „Ganz genau auf etwas ganz Banales schauen“, Ignacio Uriarte im Gespräch mit Franz Thalmair,
in: KUNSTFORUM International, Band 242, Köln: 2016, S. 142f.