Von Zeitachsen, die sich verzweigen. Spekulationen auf eine (niemals) vollendete Zukunft

Julia Grillmayr

Die Schaurigkeit des Futur II
„Die letzte Zeit / die ich lernte / als Kind / war die Vorzukunft.“ So beginnt Erich Frieds Gedicht Futurum exactum, das der Schaurigkeit des Futur II nachfühlt: „Ich weiß noch / ich verstand nicht / wieso hieß sie / Zukunft. / Sogar die Vorvergangenheit / klang nicht halb so / vergangen.“ Das lyrische Ich, eingeschüchtert vor einer Endgültigkeit, die eintreten wird, versucht sich durch Übung an dieses unheimliche Tempus zu gewöhnen: „Ich sagte laut / ohne mich sicher zu fühlen / Ich werde gelebt haben / Ich werde gegangen sein.“ Die Vorzukunft – auch Futur II, Futurum exactum oder Vollendete Zukunft –, jene grammatische Zeitform, die ein zukünftiges Ereignis beschreibt, das bereits stattgefunden haben wird, hat einen düsteren Beigeschmack. In jedem Futur II scheint ein Memento mori zu stecken; „Ich werde gelebt haben“.

Auch Frieds Zeitgenossen, die Philosophen Günther Anders und Hans Jonas, wissen um diese unheimliche Wirkmacht der Vorzukunft und setzen sie gezielt ein, um ihre jeweiligen -Verantwortungs-Ethiken zu formulieren. Beide plädieren dafür, den Menschen das Fürchten zu lehren – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Auch hier geht es um einen Lern- und Übungsprozess. Der grammatische Sprung in die vergangene Zukunft soll dabei helfen, Vorstellungen von möglichen Katastrophen zu „beschaffen“, die einer, wie Jonas es nennt, „Heuristik der Furcht“ dienen. Diese wiederum soll zu einem Handeln motivieren, das diese katastrophische Zukunft verhindert.1 Anders und Jonas schreiben diese Anleitungen zu einer „belebenden“ und „liebenden Angst“ im Hinblick auf eine drohende Atomkatastrophe.2 Anders lässt dazu einen modernen Noah auftreten, der die Zukunft vorzukünftig beweint und so vor dem potenziellen Unglück warnt.

„Wann dieses Unglück geschehen ist?“ wiederholte Noah langsam. Und nach einer Pause, ohne aufzublicken: „Weißt du das denn wirklich nicht? Morgen ist es geschehen.“ […] / „Morgen ist gut!“ höhnte da Einer, und ein Anderer: „Warum nicht übermorgen?“ […] Und sie lachten und tippten sich auf die Stirnen. / […] „Wie das möglich sein soll?“ wiederholte Noah langsam. Und nach einer Pause, ohne aufzublicken: „Weißt du denn das wirklich nicht? Weil es übermorgen etwas sein wird, was gewesen ist.“3

Während im 20. Jahrhundert Warnungen vor der atomaren Bedrohung im Futur II ausgedrückt werden, prägen heute der Klimawandel und mit ihm verbundene sozioökonomische und ökologische Krisen das Erzählen in der Vorzukunft. Das Anthropozän ist ein geradezu paradigmatisches Futur-II-Konzept. Es benennt das aktuelle Erdzeitalter in Vorausschau und retrospektiv; aus der Perspektive von fernzukünftigen Archäolog*innen, die jene Erdschicht bestimmen, die wir hinterlassen haben werden. Auch hier überwiegt die Katastrophen-Diktion. „Ausgerechnet im Anthropozän, in der Epoche, in der der Mensch unauslöschlich in die Erdgeschichte eingegangen sein wird, ergeht er sich im Erfinden von Welten, in denen er nicht mehr vorkommt“, schreibt Eva Horn in Die Zukunft als Katastrophe: „Der Mensch schaut auf sich selbst zurück, aber nach seinem eigenen Ende, eine Reflexion im Futur II: Es wird einmal gewesen sein.“4 Auch Ursula K. Heise betont den Futur-II-Charakter des Anthropozäns und in diesem Zusammenhang ebenso die Wirkmacht der Fiktion, insbesondere der Science-Fiction (SF): Die Stärke des Anthropozän-Begriffs liege nicht in der wissenschaftlichen Bezeichnung des Erdzeitalters, sondern in seiner Fähigkeit, die Gegenwart als eine Zukunft zu präsentieren, die bereits eingetreten ist – also in seiner Fähigkeit, eine Vollendete Zukunft zu erzählen.5

Der Begriff des Anthropozäns selbst beruht auf einer Vorstellung aus der Science-Fiction, indem er uns suggeriert, unsere Gegenwart mit den Augen eines/einer zukünftigen Geolog*in zu betrachten, der/die in Millionen von Jahren die Erdschichten erforscht. Diese Vorzukunft, die heute zum Standard in den Narrativen über die Zukunft des Planeten gehört, war schon immer die Domäne der Science-Fiction als Genre.6

Auch Hans Jonas und Günther Anders setzen für ihre Futur-II-Warnungen auf die Wirkmacht speku-lativer Fiktion. „Die ernste Seite der ‚science fiction‘ “, schreibt Jonas in seinem berühmten Werk Das Prinzip Verantwortung, „liegt eben in der Anstellung solcher wohlinformierten Gedankenexperimente, deren plastischen Ergebnissen die hier gemeinte heuristische Funktion zukommen kann“.7 Die Plastizität der literarischen Ausgestaltung dient dem besagten Lern- und Übungseffekt, den auch Anders einfordert: Das Potenzial der Technologie – und in besonderem Maße der Atomtechnik – entzieht sich „unserer Vorstellung und unserem Fühlen“, diagnostiziert er in der Antiquiertheit des Menschen und spricht von „moralischen Streckübungen” sowie einer „Aufgabe in der Ausbildung der moralischen Phantasie“, um die Kluft zwischen Handlungsmacht und ihren Konsequenzen „einzuholen“.8 Der einzige mögliche und sichere Rahmen für Experimente, die solche Extremszenarios fühlbar machen können, sei die Fiktion.

Dieser vielbeschworenen Wirkmacht wegen ist die Science-Fiction aktuell nicht nur eine äußerst beliebte Form des Mainstream-Entertainments, sie wird auch vermehrt als „Kunst- und Denkmaschine“9 wahrgenommen und mit Gedankenexperimenten oder Szenarios assoziiert.10 Allen drei Textformen steht die Frage Was wäre wenn … voran. Es geht ihnen nicht um eine Vorhersage der Zukunft, sondern um ein Ausprobieren verschiedener Zukünfte – und Gegenwarten. In einem Vorwort zu ihrem Roman The Left Hand of Darkness (1969) schreibt die SF- und Fantasy-Autorin Ursula K. Le Guin mit gewohntem Witz und ernster Ironie:

Ja, die Menschen in ihm [dem Roman, Anm. J.G.] sind in der Tat androgyn, aber das heißt nicht, ich wollte damit vorhersagen, daß wir in vielleicht tausend Jahren alle androgyn sein werden […]. Ich bemerke nur – in der eigentümlichen, verschlungenen, einem Gedankenexperiment ähnlichen Weise der Science Fiction –, daß wir es, zu manchen Tageszeiten, bei bestimmtem Wetter betrachtet, schon sind.11

Es war einmal … / Was wäre wenn … / Es wird gewesen sein …
Welche Rolle spielt nun das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in diesen Fiktionen, die das Versprechen bergen, unser Denken und Handeln ein Stück weit anzuleiten? Welche Rolle spielt der Sprung in eine bereits vergangene Zukunft in diesen Gedankenexperimenten? Wenn das Was wäre wenn … einen möglichen Handlungsspielraum und andere Perspektiven ausloten soll, scheint ein Es wird gewesen sein … vor allem vor abschreckende Warnungen und dringliche Aufrufe gesetzt zu werden. Nun ist es aber so, dass die allerwenigsten spekulativen Narrative tatsächlich mit einem Was wäre wenn … oder einem Es wird gewesen sein … beginnen, geschweige denn im Konjunktiv oder in der Vorzukunft verfasst sind. Was bedeutet es, wenn man in diesem übertragenen Sinn von What if- oder Futur-II-Erzählungen spricht; wenn Konjunktiv und Vorzukunft nicht als grammatisches Tempus, sondern als impliziter Erzählmotor und -modus fungieren? Diese Frage führt uns in einen Bereich, in dem das Futurum exactum eine ähnliche Funktion hat, aber noch -einmal ganz anders ausgestaltet ist: in den Bereich des feministischen Spekulierens.

Auch The Left Hand of Darkness, Le Guins Gedankenexperiment in Romanform, fängt weder mit Was wäre wenn … noch mit Es wird gewesen sein … an. Es beginnt allerdings mit einer Notiz des Erzählers an die Leser*innen, die einen Es war einmal …-Lektüremodus von vornherein verunmöglicht: „Ich werde meinen Bericht schreiben, als wäre er eine Geschichte, denn schon als Kind in meiner Heimatwelt habe ich gelernt, dass die Wahrheit eine Sache der Vorstellungskraft ist.“12 Der Erzähler betont, sein wissenschaftlich-treuer Bericht als Gesandter sei in jedem Fall auch eine Geschichte aus einer bestimmten, nämlich seiner, Perspektive. Im Einklang mit diesem Hinweis bringt Naomie Gramlich in ihrer Einleitung zu dem Sammelband Feministisches Spekulieren das Schreiben im Futur II mit Kritik an Wissens- und Wissenschaftsproduktion in Verbindung:

Die Ausgangsthese ist, dass lange schon vor dem speculative turn das Denken im Futurum II und das visionäre Entwerfen anderer Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte zum konstitutiven Bestandteil feministischer, post- und dekolonialer Theorien sowie den Gender- und Queer-Studies gehörten. Deren Vertreter*innen und Verbündete in Kunst, Theorie, Literatur und Musik teilen ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber traditionellen Wahrheits- und Wissenssystemen des Globalen Nordens und befragen deren als wahr und natürlich geltenden Annahmen auf ihren fiktionalen und narrativen Kern.13

Herauszustreichen, dass auch in den Grundannahmen, den Apparaten und den Strukturen der Wissen-schaft Geschichten und storytelling stecken – eine der zentralen Leistungen feministischer Theorie –, bedeutet auch, sich deren Kraft gewahr zu werden: „Ein feministisches Spekulieren“, schreibt Gramlich weiter, „nimmt die realitätskonstituierende Wirkmacht und Bedeutung von Fiktionen und Narrationen ernst und mittels einer Rekonfiguration für sich in Anspruch“.14 Diese Wirkmacht der Fiktion und dass diese besonders schwungvoll durch ein Denken im Futur II in Gang kommt, beschreibt auch Karin Harrasser. Mit Rückgriff auf die Philosophin Isabelle Stengers plädiert sie für ein „Spekulieren gegen das Wahrscheinliche“. Während Börsenspekulationen oder futuristische Statistik auf das Wahrscheinliche wetten und so den Zukunftstrichter an Möglichkeiten zu verengen suchen, will dieses Spekulieren den Trichter an möglichen Zukünften erweitern.

Beim Spekulieren in diesem Sinn geht es also nicht um die Extrapolation der Gegenwart oder um Wetten über wahrscheinliche Verläufe, sondern um eine retroaktive Treueprozedur, um eine Operation im Futur II: Das spekulative Denken muss sich an dem messen, was es an Möglichkeiten zum Erscheinen gebracht haben wird.15

Es handelt sich also um eine „Operation im Futur II“, die allerdings dem Katastrophismus, der diesem Tempus inhärent zu sein scheint, widersteht. Das „Spekulieren gegen das Wahrscheinliche“ sei ein Denken mit einer offenen Zukunft und gehe mit ethischen und politischen Ansprüchen einher:

Es ist viel komplizierter, wenn man sich klarmacht, dass die Zukunft, auch wenn es uns manchmal nicht so vorkommt, immer offen ist. […] Mit einer offenen Zukunft zu denken, heißt für mich auch: Es ist eine Denk-Bewegung, die sich sehr verzweigt. Wenn ich zum Beispiel in die Zukunft projiziere: Wir verschmutzen weiterhin die Flüsse. Dann ist eine wahrscheinliche Zukunft, dass dieser Fluss kippt. Wenn man sagt, die Wette ist auf die unwahrscheinliche Zukunft, nämlich, dass der Fluss nicht kippt, dann wird es kompliziert, weil man dann in diese Rückwirkungen von möglichen Abzweigungen reinkommt. Dann kann man sich fragen: Was ist denn jetzt möglich? Eine Gesetzesreform? Muss man Flussschifffahrt verbieten? Das sind alles sehr kleinteilige politische Lösungen, die dann jeweils wiederum kleinteilige Rückwirkungen auf konkrete nächste Schritte haben.16

Paradoxerweise wird hier das Futur II, die abgeschlossenste Zeitform überhaupt („Sogar die Vorvergangenheit / klang nicht halb so / vergangen.“) zum Marker einer radikalen Offenheit der Zukunft. Gleichzeitig bleibt sie – anders als ein Es war einmal …-Erzählmodus, der oft in märchenhafte Parallelwelten führt – mit der Gegenwart verbunden. Was ist bestimmt, was gewesen sein wird. Auch dieser utopischeren, positiven Vorzukunft (der Fluss wird nicht gekippt sein) kommt, genauso wie ihrer katastrophischen Form, eine besondere Dringlichkeit zu. „In so einem SF-Modus geübte menschliche Leute und irdische Andere“, schreibt Donna Haraway in Unruhig bleiben, „können vielleicht noch unaufhaltsame Desaster vermeiden und wahrnehmbare Keime der Möglichkeit für eine Multispezies-, Multizeitort-Rückgewinnung pflanzen, bevor es zu spät ist“.17 Motiviert wird diese Dringlichkeit – Unaufhaltsames doch noch aufzuhalten – allerdings von einem Ausblick auf eine bessere Welt, mehr noch als durch die Furcht vor einem drohenden Ende. „[W]ir hätten unsere Science Fiction lieber etwas utopischer“, schreibt Haraway mit ernster Ironie und gibt auch gleich ein Beispiel: „vielleicht wie Die Frau am Abgrund der Zeit“.18

Die eine oder andere Zukunft
Die Frau am Abgrund der Zeit, im amerikanischen Original Woman on the Edge of Time (1976), ist ein Roman von Marge Piercy der gleichermaßen als feministische Utopie wie als feministische Dystopie bezeichnet wird. In dem Roman sind zwei Frauen aus unterschiedlichen Zeitaltern miteinander verbunden: Luciente aus dem Jahr 2137 und Consuelo / Connie Ramos aus dem Jahr 1976. Es handelt sich hier insofern um eine Futur-II-Erzählung, als Connie eine entfernte Zukunft der USA zu sehen bekommt und sich Gedanken darüber macht, wie ihre Gegenwart in diese Zukunft münden konnte. Die Welt von Luciente zeichnet sich durch eine sehr viel gerechtere und ökologischere Gesellschaft aus. Auch ist die Art und Weise, wie Connie die Grundsätze dieser Gesellschaft kennenlernt, stark an die Erzählweise der klassischen Utopie angelehnt: Der Besucherin aus der Vergangenheit fällt es schwer, Vorurteile und Normen ihrer Zeit abzuschütteln: „ ‚Wir alle sind also Mütter geworden. Jedes Kind hat drei. Um die Kernfamilienbindung zu sprengen.‘ ‚Drei! Das ergibt doch keinen Sinn! Drei Mütter!‘ “19 Die Gastgeber*innen der Zukunft staunen wiederum ob der barbarischen Lebensweisen der Vergangenheit; beispielsweise auf Müllwirtschaft -angesprochen, sagt Luciente: „Weggeworfen, wohin denn? Die Welt ist rund.“20 Diese utopische Zukunft wird -allerdings mit einer anderen Zukunft kontrastiert, in die Connie nur einmal und unabsichtlich gelangt. In dieser dystopischen Cyberpunk-Zukunft landet sie im Apartment von Gildina 547-921-45-822-KBJ, die zugedröhnt in einer virtuellen Entertainment-Realität abhängt und auf einen Mann wartet, der über sie wie ein Besitztum verfügt. Sie zeigt sich glücklich darüber, einen mehrjährigen Vertrag mit jemanden ergattert zu haben. Die Gesellschaft ist gespalten („the great split“), die Reichen leben längst in Weltraumkolonien und auf der Erde wird die Luft dick: „Aber man kann unten oder noch weiter entfernt nichts sehen. Wie auch? Es ist dick. Es ist Luft. Wie sollte man durch Luft schauen können?“21 Aber auch in ihrer eigenen Gegenwart, im US-Amerika der 1970er Jahre lebt die Chicana Consuelo einen Alptraum. Sie wird durch kapitalistische, rassistische und patriarchale Strukturen unterdrückt, bevormundet und der Freiheit beraubt. Sie wird in einer Anstalt festgehalten, gegen ihren Willen medikamentös und schließlich auch chirurgisch behandelt. Nun kann sie aber nicht, wie in manch anderen Zeitreise-Geschichten üblich, in die Zukunft flüchten. Was sie tun kann, und letztendlich auch tut, ist, für die eine und gegen die andere Zukunft zu kämpfen. In diesem Sinn ist Frau am Abgrund der Zeit ein Roman, der in „Unruhig bleiben“ schult, wie Donna Haraway wiederholt hervorhob. Einzelne Figuren und Passagen aus dem Roman zitierend, schreibt sie:

Je grundlegender wir unser Leben umgestalten, desto besser werden wir wissen, welche Naturwissenschaften wir aufbauen müssen, um darin die neuen Verhältnisse mit der Welt abzubilden. Wie Dawn in Marge Piercys Frau am Abgrund der Zeit wollen wir in die Natur und in die Vergangenheit fliegen, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Wie Luciente und Hawk, im selben Roman, sind sich Feministinnen darüber im Klaren, dass „niemand die Dinge zum Guten wenden kann“; dass „nichts Schlechtes dabei ist, helfen zu wollen, daran arbeiten zu wollen, die Geschichte in die Hand zu nehmen … aber es allein tun zu wollen, ist weniger gut. Jemanden die Geschichte zu überreichen wie einen selbstgebackenen Kuchen“.22

Geschichte und Geschichten kann man nicht wie einen Kuchen reichen, sondern vielmehr – mit Haraway weitergedacht – wie ein Fadenspiel; es geht „um das Weitergeben und In-Empfang–Nehmen von Mustern, um das Fallenlassen von Fäden und um das Scheitern, aber manchmal auch darum, etwas zu finden, das funktioniert“.23 Es ist ein klassischer Zeitreise-Topos, dass jemand in der Zeit zurückgeht und durch (oft nur kleine) Manipulationen des Geschichtsverlaufs die Zukunft radikal verändert. Marge Piercys Roman wiederum hebt hervor, dass soziale und systemische Veränderungen niemals allein das Ergebnis von individuellen Handlungen sind, dass aber gleichzeitig jede individuelle Handlung von Bedeutung ist. Fadenspiele werden über Generationen und von einer Vielzahl an menschlichen und mehr-als-menschlichen Spieler*innen weitergereicht. Genau diese Einsicht vermittelt auch der SF-Roman The Future of Another Timeline (2019) von Annalee Newitz. Hier sind es mysteriöse Steinformationen, Eingänge und Schnittstellen zu Wurmlöchern, die es erlauben, in die Vergangenheit zu reisen. Das ergibt schließlich eine „heavily edited time-line“, eine stark redigierte Zeitachse.24 Personen gehen in der Zeit zurück, um einen „Edit“ auf der Zeitachse zu machen, also eine so ausgeprägte Veränderung hervorzubringen, dass diese auch in der Zukunft merkbar ist. Anders als etwa in Back to the Future und Co, stellt sich das als ein extrem schwieriges Unterfangen dar. Die Angewandte Geologie, die für Zeitreiseforschung zuständig ist, muss feststellen, „dass jahrhundertelange wissenschaftliche Forschung gezeigt hat, dass es für eine Person äußerst schwierig ist, die Zeitachse auch nur in oberflächlichster Weise -abzuändern“.25 Die „Great Man Theory“, dass der Geschichtsverlauf maßgeblich von einzelnen -Personen – vor allem Großen Männern – abhängig ist, wird verkompliziert: „Nachdem sie den Tyrannen Emmanuel im neunzehnten Jahrhundert ermordet hatten, mussten die Reisenden frustriert feststellen, dass stattdessen Napoleon Europa verwüstet hatte.“26

The Future of Another Timeline erzählt, wie sich zwei Fraktionen in einem „edit war“ gegenüberstehen: Eine Gemeinschaft aus Wissenschaftlerinnen, die sich „The Daughters of Harriet“ (nach Harriet Tubman) nennt, geht in der Zeit zurück, um emanzipative Bewegungen zu starten. Sie treffen sich regelmäßig, um zu eruieren, wie sich die „Timeline“ entwickelt, denn einzig die Zeitreisenden, die an einer bestimmten Weichenstellung anwesend sind, kennen beide Realitäten; die alte und die neue Zukunft: „ ‚Ich erinnere mich daran, dass in den Vereinigten Staaten Abtreibungen legal waren.‘ […] Es gab ein paar, die ‚ich auch‘ murmelten. […] Ich gehörte nicht dazu. Wie fast alle auf diesem Planeten, hatte auch ich keine Erinnerung an legale Abtreibung in den Vereinigten Staaten.“27 Auf der anderen Seite stehen reaktionäre Chauvinisten, die vergangene Geschehnisse manipulieren, um die historisch erkämpften Rechte für Frauen und LGBTQIA+ Personen bereits im Keim zu ersticken – sie werden nicht stattgefunden haben. Die Futur-II-Perspektive, die der Roman eröffnet, will ebenso den Zukunftstrichter an Möglichkeiten vergrößern, anstatt ihn engzuführen. Die Zukunft erscheint als gestalt- und wandelbar, allerdings nicht allein aufgrund der technologischen Möglichkeit, die Vergangenheit zu verändern: „Ich habe mir vorgenommen, … zu versuchen, die Zeitachse zum Besseren zu verändern. Auch wenn niemand weiß, wie Geschichte funktioniert“, sagt Beth am Ende des Romans, wobei sie im Sinn hat, ihre Zeitachse nicht durch Zeitreisen, sondern durch politische Arbeit in der Gegenwart zum Besseren zu gestalten. In ähnlicher Weise erkennt Connie in Woman on the Edge of Time nach ihrem Besuch der dystopischen Zukunft: „Das war also die andere Welt, die entstehen würde. Das war Lucientes Krieg, und sie war in ihn eingetreten.“28 Die Rolle von Connie in diesem Krieg findet nicht in der Zukunft, sondern in ihrer Gegenwart, in ihrem Alltag statt.

Vor der Vollendung gerettet
Woman on the Edge of Time ist eine Science-Fiction-Geschichte, die Donna Haraway bereits lange begleitet. Bereits in ihren Schriften aus den 1970er Jahren taucht der Roman auf. In Primate Visions (1989) zieht sie ihn zurate, um eine beißende Kritik an der Kultur rund um das National Geographic zu formulieren:

Wie in der Welt des National Geographic, ist die „Vergangenheit“ auch in Woman on the Edge of Time die Kampfzone. Die „Vergangenheit“ ist die Zeit der Ursprünge, in der Möglichkeiten festgelegt werden. Aber die Vergangenheit der möglichen Zukunft in Piercys Roman ist für Connie tatsächliche Gegenwart, der Schauplatz ihrer Kämpfe in der Nervenheilanstalt, und im weiteren Sinne der historischen Kämpfe aller unterdrückten Menschen, verkörpert durch die „verrückte“ Woman of Color, die von der „Wissenschaft“ eingesperrt und unterworfen wird.29

Wieder kommt eine Futur-II-Zeitschlaufe zum Einsatz, um sowohl fatalistisch-festgeschriebene Zukünfte als auch scheinbar fixierte Vergangenheiten in Bewegung zu bringen. Es wird erkennbar, dass in der Geschichtsschreibung auch ein Geschichten schreiben steckt. Die (feministische) Science-Fiction ist auch hier ein Durchspielen und Üben von Möglichkeiten, wobei es nicht so sehr ihre Aufgabe ist, mehr oder weniger wünschenswerte Szenarios vorzuführen, sondern Figuren und Welten zu kreieren (Stichwort Plastizität), die den Lesenden nahekommen und es erlauben, Dinge sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher und struktureller Ebene durchzudenken. Haraway beschreibt es weniger als eine Lektüreerfahrung als eine Einstellung: „Mich interessiert eine feministische SF, die Welten vorschlägt und erprobt, um die Lesenden für Unterschiede, Möglichkeiten und andere Lebens- und Sterbeformen zu sensibilisieren, die nicht in der endlosen zyklopischen Kriegsgeschichte von oben herab gefangen sind.“30 Mit Carrier Bags for Critical Zones (2020) schreibt sie einen öffentlichen Brief an Bruno Latour, der ihn vom Wert spekulativer Literatur überzeugen soll. Und auch hier geht sie auf Marge Piercys SF ein und betont, wie die Zukunftsvisionen von Woman on the Edge of Time per Futur II Dringlichkeit im Heute vorführen: „Piercys Geschichte behauptet, dass aus der Zukunft gesehen die Vergangenheit, die unsere Gegenwart ist, die Kampfzone ist.“31

Diese Textstellen und Bezüge sind für die Lektüre von Marge Piercy aufschlussreich; die eingehende und langanhaltende Auseinandersetzung von Haraway mit gewissen Science-Fictions gibt aber auch wertvolle Hinweise darauf, wie mit SF, mit spekulativen Fabulationen und feministischen Spekulationen produktiv gedacht und gehandelt werden kann. Wie etwa eine Erzählung im Futur II auf vielschichtige Weise inspirieren, aber auch abschrecken kann; wie Kritik, Diagnose und Träumerei gemeinsam und auf einer Ebene kultiviert werden können; wie nicht alles von vornherein in eine Schublade gesteckt werden muss; wie ein „Zusammenspiel negativistisch-destruktiver und affirmativ-konstruktiver Weltbezüge und Praktika“32 in Gang zu setzen ist, wie Katharina Hoppe es in Die Kraft der Revision formuliert hat. Dafür gibt es keine Formel, aber Choreografien und Übungen. „Das Spekulative ist bei Haraway kein Telos, das sich verwirklichen wird oder auf das hingesteuert werden soll.“33 Vielmehr ist das Spekulieren eine Form von Gymnastik.

Jedes Mal, wenn eine Geschichte mir hilft, mich an etwas zu erinnern, das ich geglaubt hatte, bereits zu wissen, oder wenn sie neues Wissen hinzufügt, macht jener Muskel, der entscheidend für die Sorge um das Gedeihen ist, Gymnastik. Solche Gymnastik verstärkt kollektives Denken und kollektive Bewegung.34

Das lyrische Ich Erich Frieds versucht sich durch lautes und mehrmaliges Vorsagen an die Unheimlichkeit des Futurum exactum zu gewöhnen. Hans Jonas und Günther Anders nutzen die Vorzukunft für besonders abschreckende, katastrophische Imaginations-Übungen. Die Gymnastik der feministischen Spekulation trainiert das Schritt-für-Schritt-Bauen von besseren Welten. Das Tempus beziehungsweise der Denkmodus der Vollendeten Zukunft wird letzten Endes dazu aufgerufen, die Zukunft vor ihrer Vollendung zu retten. („Wenn diese Mistkerle gewinnen, würden sie Zeitreisen zunichtemachen und uns für immer in einer Version der Geschichte einsperren.“35) Vollendet nennt man Abgeschlossenes, aber auch etwas, das tadellos und unübertrefflich, also perfekt ist. Freilich sind diese zwei Bedeutungen eng verwandt – am Vollendeten lässt sich nicht rütteln, es ist fertig, weil unverbesserlich – und in der klassischen Form der Utopie fallen sie auf interessante Weise zusammen. Als perfektes soziopolitisch-bürokratisches System aus einem Guss, das Revision ausschließt, weil es per definitionem keiner Verbesserung bedarf, haftete der Utopie ein schlechter Ruf an. Die Systeme, die von sich behaupteten vollendet zu sein, waren starr und totalitär. Wird heute am Utopiebegriff festgehalten, ist dies immer mit seiner Neuverhandlung verbunden. Die Utopie wird in Mehrzahl gesetzt und zum Spielfeld: „Utopien sind eine Übung in vernetztem Denken. Sie werden nicht als Blaupausen vorgelegt, sondern vielmehr als vorläufige Hypothesen zur weiteren Debatte und Beurteilung […].“36 Wie Ruth Levitas erkennt auch Tom Moylan eine neue Phase des Utopismus ab den 1960er Jahren. Er spricht von einer „kritischen“ Utopie bzw. Dystopie, die „die traditionelle Utopie zerstört und sie dennoch in einer veränderten und befreiten Form bewahrt, welche sowohl dem utopischen Schreiben selbst als auch dem vorherrschenden gesellschaftlichen Gefüge gegenüber kritisch ist.“37 Diese Form des Utopisierens ist eng mit (feministischer) SF verwandt – Moylan schreibt in diesem Zusammenhang auch ausgiebig über Woman on the Edge of Time.38

Ähnlich wie das Futur II die Vorstellungen von Zukunft und Vergangenheit dynamisiert, scheint es also auch dabei behilflich zu sein, die Vorstellungen von einem guten Leben in Bewegung zu halten. Die spekulative Gymnastik einer (niemals) vollendeten Zukunft trainiert die Fabulierenden, vom Allgemeinen ins Konkrete und wieder zurück zu dribbeln, den großen Wurf von kleinen Einwürfen unterbrechen zu lassen, andere Positionen einzunehmen und wach zu bleiben, manchmal auch in besonders wünschenswerte Zukünfte zu springen, in jedem Fall aber die Gegenwart dafür als Sprungbrett zu nutzen.

Julia Grillmayr (*1987 in Österreich) lebt und arbeitet in Linz und Wien.
www.juliagrillmayr.at

Veröffentlicht in
Gudrun Ratzinger und Franz Thalmair (Hg.): Kunstraum Lakeside — Vollendete Zukunft | Future Perfect,
Verlag für moderne Kunst: Wien, 2022.
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1 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003 [1979], 65.
2 Anders, Günther: Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München: C.H. Beck, 1972, 98.
3 Anders, 1972, 6.
4 Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2014, 11.
5 Heise, Ursula K.: Imagining extinction. The cultural meanings of endangered species, Chicago: The University of Chicago Press, 2017, 203.
6 Heise, Ursula K.: „Science Fiction and the Time Scales of the Anthropocene“, in ELH 86, Nr. 2 / 2019, 275–304, hier: 301. Übersetzung für diese Publikation.
7 Jonas, 2003, 67–68.
8 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, München: C. H. Beck, 2002 [1956], 273–274.
9 Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine ist der Untertitel zu Dietmar Daths Niegeschichte (2019), eine umfassende Studie über die spezifischen Wissensformen des Genres.
10 Die Beziehung von Science-Fiction-Narrativen zu Gedankenexperimenten und insbesondere zu futurologischer Szenariotechnik ist Untersuchungsgegenstand meines Forschungsprojektes Science Fiction, Fact & Forecast an der Kunstuniversität Linz (unterstützt durch ein Hertha Firnberg Stipendium des Österreichischen Forschungsförderungsfond FWF). Vgl. https://juliagrillmayr.at.
11 Le Guin, Ursula K., Die linke Hand der Dunkelheit, übers. v. Giesela Stege (Roman), Erik Simon (Vorbemerkung), München: Heyne, 2014, 10.
12 Ebd., 15.
13 Gramlich, Naomie: „Feministisches Spekulieren. Einigen Pfaden folgen“, in Feministisches Spekulieren, hg. v. Marie-Luise Angerer u. Naomie Gramlich, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2020, 9.
14 Ebd.
15 Harrasser, Karin: „In demselben Maß, wie die Wirklichkeit sich erschafft als etwas Unvorhersehbares und Neues, wirft sie ihr Bild hinter sich“, in Kunstraum Lakeside – Recherche, hg. v. Franz Thalmair, Wien: Verlag für Moderne Kunst, 2019, 9.
16 Karin Harrasser im Interview in der Radiosendung Ö1-Radiokolleg „Das Spekulative Zeitalter“ (Gestalterin: Julia Grillmayr), ausgestrahlt am 6. September 2021 ab 09:05 Uhr, Minute 7:35 – 8:29. https://oe1.orf.at/artikel/687685/Das-spekulative-Zeitalter-Teil-1.
17 Haraway, Donna J.: Unruhig bleiben, übers. v. Karin Harrasser, Frankfurt am Main: Campus, 2018, 290. Haraway bezieht sich hier auf Joshua LaBare, der SF nicht als Genre versteht, sondern als einen „Modus der Aufmerksamkeit, eine Theorie der Geschichte und eine Praxis der Verweltlichung“, vgl. ebd., 289.
18 Haraway, Donna J.: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, übers. v. Helga Kelle, in Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. v. Donna J. Haraway, Carmen Hammer u. Immanuel Stieß, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 1995, 77.
19 Piercy, Marge: Woman on the Edge of Time, London: Penguin, 2020 [1976], Ebook, Kapitel 5, ohne Paginierung. Übersetzung für diese Publikation.
20 Ebd., Kapitel 12.
21 Ebd., Kapitel 15.
22 Haraway, Donna J.: „Animal Sociology and a Natural Economy of the Body Politic: A Political Physiology of Dominance“, in Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge, 1991, 19–20. Übersetzung für diese Publikation.
23 Haraway, 2018, 20.
24 Newitz, Annalee: The Future of Another Timeline, London: Orbit, 2019, Ebook, Kapitel 3, ohne Paginierung. Übersetzung für diese Publikation.
25 Ebd.
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Piercy, Kapitel 15.
29 Haraway, Donna J.: Primate Visions. Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, New York: Routledge, 2010 [1989], 402, FN 16. Übersetzung für diese Publikation.
30 Haraway, Donna J.: „Carrier Bags for Critical Zones“, in Critical Zones: The Science and Politics of Landing on Earth, hg. v. Bruno Latour u. Peter Weibel, ZKM | Center for Art and Media Karlsruhe, Cambridge, MA: The MIT Press, 2020, 440–445, hier: 440. Übersetzung für diese Publikation.
31 Ebd., 2020, 441.
32 Hoppe, Katharina: Die Kraft der Revision. Epistemologie, Politik und Ethik bei Donna Haraway, Frankfurt a. M.: Campus, 2021, 404.
33 Ebd., 167. Siehe auch: Grillmayr, Julia: „Ein revisionärer Realismus“, Rezension zu Die Kraft der Revision v. Katharina Hoppe, Soziopolis, 14.12.2021, https://www.soziopolis.de/ein-revisionaerer-realismus.html.
34 Haraway, 2018, 159.
35 Newitz, Kapitel 2.
36 Levitas, Ruth: „Utopia Matters?“, in Utopia Matters. Theory, Politics, Literature, and the Arts, hg. v. Fátima Vieira u. Marinela Freitas, Porto: Editora da Universidade do Porto, 2005, 41–45, hier: 44. Übersetzung für diese Publikation.
37 Vgl. Moylan, Tom: Demand the Impossible. Science Fiction and the Utopian Imagination, hg. v. Raffaella Baccolini, Oxford/Bern/Berlin: Peter Lang, 2014, 41–42. Übersetzung für diese Publikation.
38 Vgl. Moylan,Tom: Scraps of the Untainted Sky. Science Fiction, Utopia, Dystopia, Boulder: Westview Press, 2000. Demand the Impossible widmet dem Roman ein ganzes Kapitel.