Simona Koch — Interbeing

Eröffnung, 10. Mai 2022, 19 Uhr
Ausstellung, 11. Mai – 9. Juni 2022

Naturwissenschaften wie Physik, Genetik oder etwa die Biologie als Lehren von der unbelebten wie belebten Materie zählen zu den vielfältigen Ansatzpunkten von Simona Koch. In experimentellen Forschungsanordnungen, die von raumgreifenden Installationen bis zu Künstler*innenbüchern reichen, geht sie dem Lebendigen in all seinen Facetten nach und entwickelt dabei ständig neue Arbeitsweisen und -verfahren. Wie eine Wissenschafterin arbeitet sie dabei methodenreflexiv: Dinge als animistische Informationsspeicher, die viele Menschengenerationen überdauern; das Wachstum sogenannter Superorganismen, zu denen die Künstlerin komplexe Strukturen wie Städte zählt; Stammbäume zur Sammlung von Erbgut; einer wissenschaftlichen Klassifikation entnommene Begriffe wie „Wurzel“, „Erbe“ und „Essenz“.

Von ihrer eigenen Biografie ausgehend, recherchiert und visualisiert Simona Koch in Werkserien wie Universeller Stammbaum (2012–2014), Menschengeflecht (seit 2015) oder Mycelium of Humans (seit 2017) Beziehungsgeflechte. Dabei erforscht sie die Spuren ihrer verwandtschaftlichen Beziehung die nach Deutschland, Österreich, Niederlande, den USA, Schweiz, Frankreich, Polen, England und Belgien reichen und sie bis ins frühe 14. Jahrhundert zurückführen. Ihr Betrachtungsweise oszilliert zwischen kleinsten und größten Strukturen, zwischen individuellen Erfahrungen und situiertem Wissen. Ihre Kunstwerke nehmen dabei die Form gezeichneter Diagramme oder animierter Zeichnungen und Karten, Videos und Collagen an oder die Künstlerin knüpft händisch Skulpturen, die einer DNA-Doppelhelix ähneln.

Für den Kunstraum Lakeside entwickelt Simona Koch die Serie Interbeing. Im Unterschied zu bisherigen Objekten, bei denen Seile die verwandten Individuen über die Generationen hinweg verbinden und zu einem linear organisierten Geflecht geknüpft werden, setzt sich Interbeing aus unzähligen Einzelfasern zusammen, die gleichzeitig und einem Netz ähnlich in alle Richtungen streben und für die Erlebnisse und Erfahrungen stehen, die die Wesen formen. Mit einem oder mehreren Knoten verbindet Koch Element für Element. Organisch anmutende Skulpturen, deren Form die Künstlerin als unabgeschlossen und nicht fixiert begreift, als temporäre Zustandsbeschreibungen von Prozessen, die der Entstehung von Welt zugrunde liegen, strecken im Ausstellungsraum als Interbeing / Condition #1 bis Interbeing / Condition #6 ihre Tentakel und Fühler aus. Sie haben etwas von Quallen und Mollusken – von Formwandlern, die gerade dabei sind, miteinander Kontakt aufzunehmen oder mit den übrigen Elementen im Raum in Verbindung zu treten. Die beige-braunen Fasern der Sisal-Agaven unterstreichen diesen Effekt, denn die zu Schnüren gedrehten Pflanzenfasern haben keine homogenen Oberflächen. Vielmehr fransen sie aus und ihr durch Drehungen gewährleisteter Zusammenhalt scheint sich langsam aufzulösen. Die großen Fangarme, die sich im Raum ausbreiten, die Fäden der Schlinge und des Nestes auf einem Ast, all diese Skulpturen, die den Raum zu einer übergeordneten Struktur werden lassen, zu einer Hyperstruktur, die wiederum in ein größeres Ganzes eingebettet ist, setzen sich in der Dekonstruktion des Sisalseils auch in immer kleineren Mustern wie ein Fraktal fort.

Nicht nur die geknüpften Elemente in Simona Kochs Ausstellung haben mit dem Konzept von „Interbeing“ zu tun, auch die Art, wie sich die Installation in den Kunstraum Lakeside einfügt, ist ein Beispiel dafür: Boden, Wände und Plafonds des Ausstellungsraums sind sowohl farblich als auch mit Sisalschnüren verbunden. Zwischen die Werke, von Interbeing / Condition #1 bis Interbeging / Condition #6, und als Hintergrund hat die Künstlerin Animationen aus händisch mit Kreidestaub angefertigten Zeichnungen positioniert, in denen Kreisläufe und Entwicklungsprozesse mit bewegten Bildern dargestellt werden. Hinzu kommen Schaukästen mit Fundstücken aus der Natur. Präsentiert wie in einem naturwissenschaftlichen Museum, manifestieren sich in den von Koch gesammelten Bienenwaben, Meerbällen oder Blüten, aber auch in Dingen wie Computerplatinen und Kupferdrähten die Ideen von organisch-rhizomatischen Verbindungen und digitaler Vernetzung. Ergänzt wird die Installation durch eine Soundebene, die von den Betrachter*innen selbst gesteuert werden kann.

Der Begriff „Interbeing“ stammt aus der Lehre des buddhistischen Mönchs Thích Nhất Hạnh, der die Verwobenheit sämtlicher Phänomene und deren Einbettung in ein hochkomplexes System von nicht nur menschlichen Beziehungen aus spiritueller Sicht beschreibt. Dass alle Elemente des Universums und, auf einen kleineren Maßstab heruntergebrochen, alle Elemente der Welt miteinander verflochten sind, wird gerade in Zeiten von einer den öffentlichen Diskurs bestimmenden Pandemie, von den Erdball umspannenden Lieferketten sowie von politisch, ethnisch oder religiös motivierten Kriegen deutlich. Denn erst wenn ein Gefüge aus dem Lot zu geraten droht, treten einzelne seiner Bestandteile als Störmomente ins Bild. Simona Koch bezieht sich mit Interbeing nicht nur auf Vorstellungen, die dem Buddhismus oder anderen spirituellen Traditionen entstammen, sondern referiert auch auf wissenschaftliche Felder, worin unterschiedliche Formen von Verbundenheit mit Begriffen wie „Enaktivismus“ (Humberto Maturana und Francisco Varela), „Élan vital“ (Henri Bergson), „Togetherness“ (Alfred North Whitehead) oder etwa „Sympoiesis“ (M. Beth Dempster und Donna Haraway) beschrieben werden. „Die vielen Stoffe, aus denen man Welten erzeugt – Materie, Energie, Wellen, Phänomene –, werden zusammen mit den Welten erzeugt“, schreibt der Philosoph Nelson Goodman in Weisen der Welterzeugung. „Aber erzeugt woraus? Jedenfalls nicht aus nichts, sondern aus anderen Welten. Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus; das Erschaffen ist ein Umschaffen.“* Dass Simona Kochs künstlerische Forschungspraxis performativ im Sinne eines die Welt nicht nur beschreibenden, sondern die Welt auch hervorbringenden Handlungsfeldes ist, wird spätestens mit Betreten des Ausstellungsraums und mit Betreten ihres Universums offensichtlich.

*Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 2020, S. 19.

Sprecher der Soundarbeiten: Christopher Barber

Simona Koch (* 1974 in Deutschland) lebt und arbeitet in Wien und Neustadt/Aisch, Deutschland.
www.simonakoch.de
www.abiotismus.de

 

Simona Koch, Ohne Titel, 2021