Eröffnung, 4. Juli 2023, 19 Uhr
Ausstellung, 5. Juli – 22. September 2023
Werke von Patrícia Almeida, Maria Anwander, Daniela Comani, Josef Dabernig, Claire Fontaine, Hermann Gabler, Hermann Gabler, Dora García, Irena Haiduk, Iman Issa, Ana Jotta, Marijn van Kreij, John Morgan, Kay Rosen, Hans Schabus, Lena Sieder-Semlitsch, John Stezaker, Mitchell Thar
Ausgehend vom Bücherregal des Kunstraum Lakeside, eine seit der Gründung des Raums unsystematisch entstandene Ansammlung von Künstler*innen- und Theoriebüchern, wurde Robin Waart eingeladen, eine Ausstellung zu gestalten. Unter dem Titel Wörthersee, Wörtersee reagiert er in seiner Doppelrolle als Künstler sowie als Künstlerkurator auf die von Josef Dabernig festgelegten Strukturen des Kunstraums mit einer ortsspezifischen Intervention. Das spezifische Präsentationsmobiliar, das paarweise existiert – alle Vorrichtungen wie Tische, Sessel, Stellwände und Regale, die die technoid-admistrative Beschaffenheit des Kunstraums prägen – nimmt Waart zum Ausgangspunkt, um sich mit Fragen nach Duplizierung und Duplizität sowie mit Begriffen wie Wiederholung, Wiedererkennung, Verwandtschaft und Freundschaft auseinanderzusetzen. „Die Bewegung, mit der ich meine Ausstellung beginne, ist eine Intervention, die Josef Dabernigs Architektur aufgreift und geradezu überaffirmiert. Dabernigs Gestaltung des Kunstraums, die alles, was im Raum geschieht, determiniert, verstehe ich an sich als ironisch-kritische Geste und als Vorstoß auf die Frage, wie man etwas ausstellen kann.“ Für Wörthersee, Wörtersee verdoppelt der Künstler die einzelnen Bücher der Bibliothek und zeichnet die Ausstellungstätigkeit der vergangenen 20 Jahre in Form einer Bibliografie nach, die wiederum als Künstler*innenbuch und Künstler*innenposter erscheint. Zusätzlich zu eigenen Arbeiten lädt Robin Waart andere Künstler*innen, mit denen er gerne in Beziehung treten würde, dazu ein, an der Ausstellung teilzunehmen.
Robin Waart (* in den Niederlanden) lebt und arbeitet in Amsterdam.
www.robinwaart.nl
Kuratorisches Statement
Robin Waart
Das Double ist kein Paar, keine Kopie, kein Beispiel, Ersatz oder etwas dazwischen: das „so tut als ob“, ein „An-der-Stelle-von“ oder „Ähnlich-wie“, aber was? Ein Original, ein Erstes, ein Zweites, etwas, das man nicht sieht, bis man es wiedererkennt. Wenn es zwei – und nicht eines – gibt, geschieht Folgendes: Was sich verändert, ist vielleicht nicht das Ding, sondern unsere Beziehung zu ihm. Und wenn „Identität“ eine solche Beziehung von etwas oder jemandem zu sich selbst ist, wird das, was eindeutig und (nach)vollziehbar war, vervielfältigt, zusätzlich und unrein. „Alles beginnt mit Echo“.
Eins und eins ist elf, aber nur, wenn man es unbedingt so sehen will. „Der Tag, an dem Hedwig kam, war ein Montag, und an diesem Montagmorgen, bevor meine Wirtin mir Vaters Brief unter die Tür schob, hätte ich mir am liebsten die Decke übers Gesicht gezogen, wie ich es früher oft tat, als ich noch im Lehrlingswohnheim wohnte.“ Wieder ein Montag, aber ein besonderer Montag, an dem die Hauptfigur in Heinrich Bölls Nachkriegsnovelle Das Brot der frühen Jahre merkt, dass er vergessen hat, wer er war, wie er aussah, wie er bisher seinen Lebensunterhalt verdient hatte: als wäre die Gegenwart plötzlich Vergangenheit und das Rätsel, das er für sich selbst gewesen ist, wieder ein ganz anderes Rätsel.
„Eins ist zu wenig, und zwei sind zuviel“, sagt das Mädchen Hedwig, das er an diesem Tag trifft, hungrig und unschlüssig, wie viel Kuchen es bestellen soll. “Einundeinhalb also“, schlägt der Kellner vor. „Kann man das haben?“, lautet die Frage, mit der Böll Hedwig antworten lässt, und damit ihrem Erstaunen über die mögliche Befreiung aus einem Milieu Ausdruck verleiht, in dem mehr als eins undenkbar wäre.
Mit einem Sprung vom Anfang zum Ende einer Beziehung: Annie Ernauxs 38-seitiges Buch Der junge Mann ist die Geschichte eines Alter Egos, das eine Affäre mit einem zwanzig Jahre jüngeren Mann „abbricht“, der noch dans le premier des choses ist (also nicht „in der Blüte seiner Jahre“, sondern im Sinne von „der die Dinge das erste Mal erlebte“) – während die Erzählerin selbst zu erkennen beginnt, „dass die Gegenwart für mich nur […] ein Duplikat der Vergangenheit [war]“. Das Duplikat wird für sie zur Täuschung.
Wörthersee, Wörtersee untersucht anhand der Werke von 18/19 Künstler*innen, wie Verdoppelung, Paarung, Aufspaltung, Gegenüberstellung, ein einmaliges Wiederholen (als erster Schritt der Wiederholung) aussehen kann und wozu (zu welchen Instabilitäten) dies führen kann. Gleichermaßen Übersetzung wie ein Zögern, ein Komma, einen Punkt zu setzen – oder nicht –, ist Wörthersee, Wörtersee eine Beschwörung („Spieglein, Spieglein“), eine Warnung („Jakob, Jakob“), ein aufgewühltes Seufzen („Liebe, Liebe…“) oder eines der Erleichterung („Das Meer, das Meer!“). Zweitens ist es auch eine fortlaufende Sammlung von Notizen und mein eigener Versuch, eine schlechte Kopie anzufertigen.
Patrícia Almeidas Mirror Ball (2008) ist genau das: eine Filmaufnahme der Reflexionen der Spiegelblättchen einer Diskokugel, gefangen in den Begrenzungen einer Videoleinwand. In den Lichtmustern, die sie in die Umgebung ihrer Präsentation zurückwirft, scheinen auch Fragmente vom Kunstraum Lakeside enthalten zu sein.
Maria Anwanders Sammlung von Wandbeschriftungsschildern für Félix González-Torres‘ ikonisches Werk Untitled (Perfect Lovers) ist eine Weiterführung der Serie My Most Favourite Art (2004–2009). Die von der Künstlerin gestohlenen oder kopierten Artefakte bringen uns mit ihren (Un-)Genauigkeiten, Tippfehlern und Typografien (wie die fehlenden Akzente in FGTs Namen), etwas näher, das eigentlich dem Museum vorbehalten ist.
In Daniela Comanis Buchprojekt Neuerscheinungen (2009) werden die Titel von Büchern, die uns nur allzu bekannt sind, nicht unverändert neu aufgelegt, sondern durch den Neuabdruck aktualisiert und gegendert, so dass wir uns nun einen Monsieur Bovary, eine Doña Quixote, Die Kleine Prinzessin oder eine Frau ohne Eigenschaften vorstellen können.
Die Handschriftlichen Kopien, die Josef Dabernig von 1977 bis 1999 anfertigte, ersetzen in ihrer Wiederholung nicht das Lesen: Sie greifen in die übliche Reihenfolge von Manuskript und Druckausgabe ein, im Danach und Davor, im Einmaligen oder Vervielfältigtem. Scans der Abschriften wurden 2008 von der BAWAG Foundation / JRP|Ringier wiederum selbst in Buchform veröffentlicht.
Claire Fontaines Brickbats, in der englischen Bedeutung soviel wie „Pflastersteine, die als Wurfgeschosse verwendet werden“ oder „kritische Kommentare oder Bemerkungen“, sind Bucheinbände, die Pflastersteine umhüllen, und das, was man darin sieht: eben Pflastersteine mit einem Bucheinband um sie herum – die aber möglicherweise ein Fenster einschlagen und unser Leben verändern könnten.
Die Chicagoer Gruppenausstellung OBST von 2018 mit Arbeiten von Hermann Gabler, Hermann Gabler und Mitchell Thar wird bei Wörthersee, Wörtersee mit drei verschiedenen Einzelwerken reproduziert und neu präsentiert: Zwei Gemälde von zwei verschiedenen Künstlern gleichen Namens, eines von Hermann Gabler (1908–1977), das andere von Hermann Gabler. Mitchell Thars Untitled A2 (Groove) wurde aus dem Umschlagmaterial des gleichnamigen Künstler*innenbuchs gefertigt und auf das Format eines A4-Vinylbogens zugeschnitten.
Dora Garcías Ulysses (1999) ist ein Buchexemplar (im bibliografischen Sinne) von James Joyces experimentellem Roman, dessen rechte obere Ecke komplett abgeschnitten ist. Das Innere des Buches wird sichtbar, als ob jede Seite mit einer Art von Eselsohr versehen wäre und derart hervorgehoben werden sollte. Ihr Fahrenheit 451 ist eine Neuauflage von Ray Bradburys Roman und gänzlich spiegelverkehrt abgedruckt, wie ein Negativ des gleichnamigen Films.
Irena Haiduks Proof of Siren(s) gibt es, nach eigener Aussage, „in zwei Formaten: in Lebensgröße (ca. 142 × 106 × 19 cm, die Größe variiert je nach Ansicht) und in Buchgröße (19,5 × 24 × 13 cm), jeweils mit Aluminiumhauben versehen. […] Das kleinere Proof of Siren(s) muss so gehängt werden, dass sich der Scheitel der Haube in Kopfhöhe der Sammler*innen befindet. Die Buchausgabe wird oben auf die Haube gelegt.“ Dabei handelt es sich um Seductive Exacting Realism, eine Monografie, die den fehlenden Band Nr. 12 der Gesammelten Werke von Marcel Proust in der kroatischen Übersetzung von Tin Ujević nachbildet (und als solchen tarnt), den Haiduk 2014 bei einer öffentlichen Auktion erworben hat.
Book of Fact: A Proposition (2017) von Iman Issa ist ein Künstler*innenbuch mit 78 Abbildungen. Es enthält eine Bibliografie, Bildnachweise und einen Index, aber keine Bilder, und dokumentiert eine Ausstellung, die nie stattgefunden hat – und nie stattfinden wird. „Es kann nicht gesehen werden, denn es ist das, was das Sehen verursacht“, heißt es in der Bildunterschrift zu Abbildung 73.
Ana Jottas Sem título (2017) ist der Bronzeabguss eines kleinen, namenlosen Buchs, das selbst im Zuge der Herstellung dieses neuen Originals zerstört wurde. Zwischen den Zeilen bildet es in dieser Form buchstäblich die Kampfansage des Dichters Horaz an das Medium der Skulptur nach, dass er mit seinen Versen ein Denkmal aere perennius – „dauerhafter als Bronze“ – geschaffen hätte (Odes III.30).
Marijn van Kreij konfrontiert in seinem Werk die Wiederholung mit ihrem(n) Gegenstück(en); die Zeichnung dient ihm als Prüfstein, um alle Facetten der Wiederholung zu erforschen: ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Gleichheit, das Déjà-vu, den Punkt, an dem sie hängenbleibt und Sprünge macht, wie ein Lied mit Schluckauf. Seine Doppelzeichnungen entstanden, als er versuchte, ein mit einem anderen Künstler ausgetauschtes Werk zu ersetzen, um eine Kopie für sich selbst zu behalten.
John Morgans Usylessly dupliziert, so der Künstler, „Größe, Umfang und Aussehen der Shakespeare-und-Co.-Ausgabe aus dem Jahr 1922“ von James Joyces Ulysses („Alles außer dem Text“). „Es ergab sich aus dem genauen Studium des blauen Einbands und der Form der Erstausgabe“, deren Exemplare mit der Zeit verblasst, brüchig und stockfleckig geworden sind.
Bei Kay Rosens Oh, Eau ist die Zeichensetzung Protagonistin: eine Mikrogeschichte in zwei Teilen, deren Inhalte Liebe oder Verzweiflung bekunden, je nachdem, wo die Kommas, Punkte oder Anführungszeichen gesetzt werden. Oh, Eau existiert als Vinyl-Wandtext, datiert mit dem Entstehungsjahr und dem Jahr der Ausstellung der Arbeit (1989/2023), sowie als kleinerer Buchdruck (1989/2018). In Wörthersee, Wörtersee sind beide zu sehen.
In seinen Arbeiten scheint sich Hans Schabus auf die eine oder andere Art stets mit Maßstab zu beschäftigen – ob es sich nun um seine eigene Körpergröße, die eines Baumes oder der Welt selbst handelt, die auf das Format einer Briefmarke reduziert ist. Turmbau zu Babel (2023) beschließt einen Stapel von Puzzles, die er seit 2010 gestaltete und in Ausstellungen immer mit der unbedruckten Unterseite präsentiert werden: auf ihrer Rückseite befindet sich ein Bild des größten Gebäudes, das – abgesehen von den Gemälden, die Bruegel davon gemacht hat – nie gebaut wurde.
Die beiden marmorierten Vorhänge, 25 Vorsatzpapiere mit rotem Kapitalband und 25 Vorsatzpapiere mit gelbem Kapitalband, die Lena Sieder-Semlitsch für ihre Installation im Kunstraum Lakeside angefertigt hat, lassen sich auf- und zuklappen (wie ein Buch) und verweisen damit nicht nur auf einen Einband oder Vorsatzblätter, sondern auch auf die berühmte Geschichte vom Wettbewerb zwischen den zwei Künstlern Zeuxis und Parrhasius über die Wahrheit in der Malerei.
John Stezakers Double Shadow (2020) stammt aus der Serie von Collagen, die er in seinen letzten gleichnamigen Ausstellungen gezeigt hat: Zwei Motive scheinen in den Hintergrund des jeweils anderen überzugehen, sie scheinen ineinander verzahnt, wie zwei Gesichter in einem, die auf rätselhafte Weise ununterscheidbar sind, voneinander und in sich selbst.