Statement #18 | Marie-Andrée Pellerin — Speculative Keys

Performance, 21. Juni 2022, 19 Uhr
Anschließendes Gespräch mit Sebastian Mühl
Open Space ab 17 Uhr

Speculative Keys ist eine Zusammenführung einer Videoarbeit sowie Soundperformance als zwei Manifestationen eines langfristig angelegten Forschungsprojekts, das sich mit dem Konzept der Sprachfluidität in der Science-Fiction-Literatur befasst. Mit dem Titel bezieht sich Marie-Andrée Pellerin einerseits auf Science-Fiction-Literatur, die versucht, spekulativ neue soziale Beziehungen zu entwickeln und Kommunikationsakte mit radikal unterschiedlichen Lebewesen zu vollführen, und andererseits auf das Werkzeug der Performance, eine Computertastatur und ihre zweckentfremdeten und umfunktionierten Tasten. Der Untersuchungskorpus der Künstlerin besteht aus einer Sammlung von Science-Fiction-Geschichten, die unterschiedliche Umgangsformen mit unseren „sprachlichen Schwachstellen“ sowie alternative Möglichkeiten einer Unterhaltung mit anderen beschreiben. Einige Texte daraus schlagen vor, die Sprache, wie wir sie kennen, abzuschaffen, indem sie neue Kommunikationsformen einführen, die von einer hochentwickelten feministischen Sprache über Telepathie bis hin zu chemisch verkörperten Signalen reichen. Pellerin wählt Segmente dieser Science-Fiction-Geschichten aus, von denen einige speziell für dieses Projekt beauftragt wurden (Élisabeth Vonarburg, Monika Rinck) und verwandelt sie in neue Erzählungen und abstrakte Klänge. Darüber hinaus wird der Versuch unternommen, mit Wortschöpfungen aus einem spekulativen Lexikon, das sie in der marokkanischen Wüste mit ihren Mitarbeiter*innen vom Ansible Institute entwickelt hat, eine Praxis der fließenden Sprache zu verwirklichen.

Die Klangqualität der Worte ist dabei für diese Kompositionen von zentraler Bedeutung. Pellerin spielt aufgenommene Stimmsegmente mit der Computertastatur ab und komponiert Sequenzen und abstrakte Loops, die die Materialität der Stimmen reflektieren. Sie stellt Fragen danach, was anders sein hätte können, wenn Sprache ein fließenderes Gebilde wäre. Hätte sie uns in die Lage versetzt, das zu benennen, was noch zu benennen ist, den Stummen eine Stimme zu geben? „Beim Spekulieren gegen das Wahrscheinliche“*, so die Künstlerin über ihr eigenes Forschen, „würde das Konzept der fließenden Sprache die Möglichkeit radikal anderer ‚Gesellschaftsentwürfe‘ und unerwarteter Konstellationen von Lebewesen bieten.“ Der Bereich der Soundperformance wird in Form eines selbst gefertigten bunten Teppichs aus Kacheln begrenzt, die „Lexigramme“ genannte Symbole darstellen: Es handelt sich dabei um eine künstliche Sprache, die von Wissenschafter*innen des Sprachforschungszentrums der Georgie State University zwischen 1971 und 1979 entwickelt wurde, um mithilfe einer Tastatur mit Bonobos und Schimpansen zu kommunizieren.

Ausgehend von Science-Fiction-Geschichten, die von Frauen geschrieben wurden, steht das Video Une oreille gigantesque capable d’absorber tous les bruits du monde (A Gigantic Ear Capable of Absorbing All the Noises of the World, 2020) programmatisch für Marie-Andrée Pellerins spekulativen Zugang zur Sprache. Die Künstlerin entwickelt ihre Bewegtbilder, Klanginstallationen und Performances häufig entlang sprachbezogener Themen sowie vor der Hypothese der sprachlichen Relativität, derzufolge die gesprochene Sprache unser Denken und unsere Beziehung zur Realität prägt. Im Video zeigt Pellerin Bilder eines fiktiven klinischen Experiments, in dem eine Wissenschafterin versucht, den Sprachgebrauch ihrer Patientin durch die „Praxis der Sprachstörung“ radikal zu verändern. In dieser Montage aus Videofootage, 3D-Animationen, gesprochener und geschriebener Sprache sowie Soundexperimenten untersucht die Künstlerin die Funktionsweisen von Sprache jedoch nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene, sondern schöpft auch die formalen Möglichkeiten des Videoformats aus. Dazu räumt sie etwa nonverbalen Informationen den Vorrang vor dem gesprochenen Text ein und erlaubt der Geräuschkulisse und den bewegten Bildern, die Art und Weise zu beeinflussen, wie die Untertitel erscheinen und wiederum mit dem Bild verschmelzen.

*Harrasser, Karin: „In demselben Maß, wie die Wirklichkeit sich erschafft als etwas Unvorhersehbares und Neues, wirft sie ihr Bild hinter sich“, in Kunstraum Lakeside – Recherche, hg. v. Franz Thalmair, Wien: Verlag für Moderne Kunst, 2019, 9.

Marie-Andrée Pellerin (* in Kanada) lebt und arbeitet in Linz.
www.marieapellerin.info

 

Marie-Andrée Pellerin, Une oreille gigantesque capable d’absorber tous les bruits du monde, 2020

Programmierung in Zusammenarbeit mit:
Pascale Tétrault

Stimmen: Stephanie Bergwinkl, Sam Bunn, Clarissa Cohausz,
Cordula Daus, Larose, Martha Oelschläger,
Elisabeth Vonarburg and The Ansible Institute

Textauszüge aus oder inspiriert von:
Sweet Wuff, Monika Rinck, 2021
Muables, Elisabeth Vonarburg, 2020
She Unnames Them, Ursula K. Le Guin, 1985

Tonbearbeitung: Marie-Andrée Pellerin und
André Tschinder

Gefördert vom Art Council of Canada und vom Conseil des Arts et des Lettres du Québec
Weitere finanzielle Unterstützung durch die Vertretung der Regierung von Québec in Deutschland, Österreich und der Schweiz