Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová — havoC, anaeMia, A tacticaL knoT, us

Eröffnungstag, 18. Mai 2021, 15 – 19 Uhr
Ausstellung, 19. Mai – 25. Juni 2021

„Wie fließt die Zeit? Treibt die Vergangenheit die Zukunft voran oder zieht die Zukunft die Vergangenheit nach sich?“ Anetta Mona Chişa und Lucia Tkáčová beantworten die von ihnen selbst gestellte Frage mit einem Weder-Noch. „Vergessene Erinnerungen werden“, so die Künstlerinnen, „zu Zukunftsvisionen, während zukünftige Hirne und morgige Hände ihre eigene Vergangenheit erschaffen.“ Sie konkretisieren diese unentwirrbare Verflechtung von dem, was war, mit dem, was kommen wird, in einprägsamen installativen Szenerien. Die eingesetzten Materialien, angewandten Verfahren und umgesetzten Formen lassen Zeit buchstäblich greifbar werden.

Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit vor gut 20 Jahren setzten sich Tkáčová und Chişa mit dem radikalen Gesellschaftswandel auseinander, den das Wendejahr 1989 in osteuropäischen Ländern einleitete. Sie fragten danach, was es bedeutet, wenn lange Zeit gültige Zukunftsentwürfe plötzlich von ganz anderen Versprechen abgelöst werden und wenn sich sowohl die alten wie auch die neuen auf persönlicher Ebene als unrealisierbar erweisen. In jüngerer Zeit dehnen Chişa und Tkáčová ihre Perspektive auf Vergangenheiten weit vor unserer Zivilisation und Zukünfte lang nach unserer Gegenwart aus. Sie werfen damit einen Blick auf eine Welt, die entschieden nicht nur um Menschen kreist. Neue Entitäten und Spezies betreten die Bühne. Darüber hinaus lassen sich Funktionen von Kunst erahnen, die weit außerhalb unseres derzeitigen Kunstbetriebs liegen. Die in der Ausstellung havoC, anaeMia, A tacticaL knoT, us versammelten Artefakte scheinen zu verkünden, dass die derzeitige gesellschaftliche Ordnung einmal Vergangenheit sein wird. Wie das Ende dieses Zeitalters aussieht, bleibt offen. Die vorgestellten Erinnerungen an die Zukunft haben also die Möglichkeit, ihr Potenzial voll zu entfalten.

Im Kunstraum Lakeside kombiniert das Künstlerinnenduo bereits bestehende Werke mit ortsbezogenen Setzungen. Things in Our Hands (2014) lenkt vor dem Hintergrund drohender Umweltkatastrophen und rasanter Virtualisierung den Blick auf die Materialität von Bargeld. Noch gibt es Scheine aus Papier und Münzen aus Metall, die aufgrund einer weltweiten Übereinkunft Wert besitzen. Doch nicht allzu ferne Zukünfte sind vorstellbar, wo dies nicht mehr der Fall sein wird: Bargeld hat dann seine Funktion als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel verloren. Was bleibt, ist das Material. Für Things in Our Hands ließen Chişa und Tkáčová Euro-Münzen einschmelzen, um mit dem daraus gewonnen Metall Formen zu schaffen, die potenziell handfesten Nutzen haben. Gleich steinernen Faustkeilen könnten diese Metallplastiken als Werkzeuge zum Schneiden, Spalten, Schaben oder Glätten dienen. Gleichzeitig tragen sie auf ihren Oberflächen die Spuren von Händen. Es wirkt, als wäre weiches Metall zwischen Fingern hervorgequollen oder als hätte es durch Handballen geformte Hohlräume ausgefüllt – ganz so, als würde sich der Kupfernickel an jene Zeit erinnern, als unzählige Hände mit ihm hantierten. Things in Our Hands „verkörpern“, so die beiden Künstlerinnen, „den Zustand vor und nach der Existenz des Geldes in unserer Welt, sie materialisieren die zwei Enden seines Entwicklungsbogens“. Die Objekte verweisen damit auf eine Frühgeschichte und postapokalyptische Zukunft gleichermaßen. Sie sind „Fossilien aus der Zukunft“, die für jene langen Zeiträume innerhalb der Menschheitsgeschichte stehen, in denen es für Geld keine Verwendung gibt.

The Reconciliation of Yes and No (2015) stellt einen Versuch dar, Mehrdimensionalität zu visualisieren. Chişa und Tkáčová greifen dabei auf ein Material zurück, das eher mit kultischen Praktiken als mit wissenschaftlichen Disziplinen wie Mathematik und Physik assoziiert wird: Sie nutzen die Knochen von kleinen Säugetieren und Vögeln. Modellhafte Figuren der Mehrdimensionalität wie Tesserakt, Pentachoron, antiprismatische Prismen und andere Polychora stehen in ihrer knöchernen Stofflichkeit für einen Aufbruch in ein bislang „unerschlossenes Terrain des menschlichen Gehirns“. Die Künstlerinnen weisen mit ihren räumlichen Visualisierungen die Annahme zurück, Menschen seien 3D-Wesen, die nicht in der Lage wären, eine zusätzliche Dimension zu erfassen. Indem sie auf ein Material setzen, das scheinbar unversöhnliche Gegensätze wie belebt und unbelebt zusammenführt, öffnen sie einen Spalt, durch den weitere Dimensionen, wenn schon nicht intuitiv erfahrbar, zumindest erahnbar werden.

Der (Im-)Materialität der gegenwärtigen visuellen Kultur geht das Künstlerinnenduo mit The Prophecy of Things (2017–2018) nach. Bildschirme von Smartphones fungieren als Schnittstellen zwischen Menschen und unendlich scheinenden Bildwelten. „Ihr materialübergreifendes Wesen verleiht ihnen eine grundsätzliche Dualität“, so Chişa und Tkáčová. „Bildschirme sind überall und sie sind immer Material, doch oft erscheinen (oder verschwinden) sie wie etwas Immaterielles.“ Handgewebte Teppiche zeigen jene Bilder, die entstehen, wenn die Apparaturen zerbrechen und nicht mehr die für sie intendierten visuellen Informationen wiedergeben: Abstrakte Formen von bestechender Schönheit sind zu sehen. In den Worten der Künstlerinnen: „Die ‚emanzipierte‘ Maschine erschafft frei schwebende Pixel, von jeder Intention, jedem Intellekt befreite Bilder, unbelastet und bedingungslos.“

Mit ihren ortsbezogenen Setzungen transformieren die Künstlerinnen den Kunstraum Lakeside grundsätzlich: Weiche Displays bilden Landschaften, in denen die bereits bestehenden Werke präsentiert werden, und ein mineralisches Sonnenschutzmittel dient dazu, die Fensterfronten zu gestalten. Während Josef Dabernigs ursprüngliche Gestaltung des Ausstellungsraums als Überaffirmation der wirtschaftlich-technologischen Bedingung seines Bestehens begriffen werden kann, widersetzen Anetta Mona Chişa und Lucia Tkáčová sich diesen räumlichen Parametern. havoC, anaeMia, A tacticaL knoT, us reiht sich damit in andere Ausstellungsprojekte der beiden Künstlerinnen ein, deren Ausstellungstitel seit 2012 meist aus einem Anagramm ihrer Namen gebildet werden. Die Rekombination der Buchstaben zu neuen Sinneinheiten entspricht ihrem Versuch, in ihrer kollaborativen Zusammenarbeit zu einer „dritten Entität“ zu verschmelzen. Potenziell wären mehrere Oktillionen an Alias-Namen möglich, doch durch aufwändiges Sortieren des vorhandenen Buchstabenmaterials in Verbindung mit dem strategischen Einsatz von Zufällen, ergeben sich Wortreihen, die die Form von Kampfnamen annehmen. Diese „noms de guerres“ laden ein, sich mit jenen neuen Einheiten auseinanderzusetzen, die entstehen, wenn Zuschreibungen oder Begrenzungen zurückgewiesen werden und Identitäten nicht festgeschrieben sind, sondern sich in ständigem Fluss befinden. Diese Einladung an uns – die Betrachter*innen – gilt für kleinformatige Werke ebenso wie für ephemere Setzungen, ganze Ausstellungen oder auch deren Titel: Wir – ein taktischer Knoten.

Anetta Mona Chişa und Lucia Tkáčová arbeiten seit 2000 zusammen.
Sie leben und arbeiten in Prag und Vyhne.
www.chitka.info

 

Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová, The Prophecy of Things (detail), 2017–2018

 
 
 
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